Bis in alle Ewigkeit
dort Dolmetscherin, hat einen jungen SS-Leutnant kennengelernt und sich mit ihm fotografieren lassen. Was folgt daraus?«
»Nichts.« Nolik seufzte. »Sie haben sich kennengelernt, sich fotografieren lassen, erst zu zweit, dann zu dritt, mit einem Säugling. Der Säugling ist dein Vater. Er wurde erwachsen, und sechzig Jahre später fährt er nach Deutschland, bringt von dort Fotos mit, die er vor dir versteckt, und kurz darauf stirbt er.«
»Halt, Schluss!«, rief Sofja. »Erzähl lieber weiter von Stalin und Hitler!«
»Gut«, sagte Nolik, »aber darum musst du nicht gleich so schreien.«
»Entschuldige.«
»Ich entschuldige nicht!«
Eine Weile schwiegen sie beide. Sofja fuhr an den Straßenrand, hielt an, lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen.
»Ist dir nicht gut, Sofie?«, fragte Nolik besorgt.
»Weißt du, Papa war sein Leben lang überzeugter Kommunist«, murmelte Sofja kaum hörbar mit geschlossenen Augen. »Lenin war für ihn ein Heiliger. Er hat immer gesagt, die stalinschen Repressalien ließen sich mit dem gewaltigen ökonomischen Sprung, der Industrialisierung und schließlich mit dem Sieg im Krieg rechtfertigen. Ich habe ihm nicht widersprochen. Mama ja, sie hat mit ihm gestritten, hat ihn angeschrien, bis sie heiser war.«
»Recht so«, knurrte Nolik.
»Ich weiß nicht. Sie konnte ihn doch nicht überzeugen.«
»Ja, das hätte wohl niemand gekonnt. Für deinen Vater war jeder noch so unschuldige antisowjetische Witz eine indirekte Beleidigung der Erinnerung an die junge Kundschafterin Vera.« Nolik seufzte traurig. »Trotzdem schade, dass du ohne Großmutter aufgewachsen bist. Aber an deine Urgroßmutter kann sogar ich mich noch erinnern, wenn auch nur vage. Sie ist 1982 gestorben, nicht?«
»1983. Da war ich sieben. Unter ihrem Bett lag immer ein gepacktes Bündel. Dörrbrot, Zahnbürste, ein Stück Kernseife, Flanellunterhosen, ein Gummigürtel, grässliche braune Strümpfe. Und ein Leninbild, emailliert und im Silberrahmen, wie eine Ikone. Bis ins hohe Alter ist sie durch ganz Russland gereist, hat Pionieren von ihrer heldenmütigen Tochter erzählt und dabei geweint. Jedes Mal hat sie aufrichtig geheult, aber das Bündel hatte sie immer bei sich.«
»Warum?«
»Ach, du Historiker! Falls man sie verhaftete.«
»Ein Bild ihrer Tochter war nicht in dem Bündel?«
»Nein. Nur eins von Lenin. Verstehst du, es kann doch sein, dass Papa wegen dieser Fotos gestorben ist. Er erfährt plötzlich, dass das Leben seiner Mutter ganz anders aussah als die Vorzeigelegende einer sowjetischen Heiligen. Ein Schock, der so schlimm ist, dass er einen Herzanfall auslöst. Vielleicht sollte ich die Fotos verbrennen?«
»Er hat es nicht getan.«
»Ja, stimmt, du hast recht.« Sofja sah auf die Uhr, schniefte kläglich und fuhr los. »Schön, erzähl weiter von den beiden Menschenfressern.«
»Gern. Ist ja selten, dass du mal mir zuhörst und nicht ich dir. Also. Sie hatten Polen unter sich aufgeteilt, dann erhieltHitler interessante Informationen über den wahren Zustand der Roten Armee. Bis dahin hatte er der stalinschen Wochenschau im Kino geglaubt, er hatte die prunkvollen Paraden auf dem Roten Platz gesehen und befürchtet, gegen eine solche militärische Macht nicht anzukommen. Übrigens standen sie zu dieser Zeit in durchaus friedlichem Kontakt miteinander, schrieben sich sogar. Möglicherweise haben sie sich im Oktober 1940 heimlich in Lwow getroffen.«
»Stop! Das glaube ich nicht!« Sofja war plötzlich hellwach und endlich abgelenkt von den Gedanken an ihren Vater. Sie hörte aufmerksamer zu und ging im Kopf den Geschichtsunterricht an der Uni durch.
»Ja«, stimmte Nolik ihr zu, »solche Hypothesen werden immer eine Frage von Glauben oder Nichtglauben bleiben. Es gibt keine exakten Beweise. Klar, falls diese Begegnung wirklich stattgefunden hat, haben beide Teilnehmer anschließend dafür gesorgt, dass weder Dokumente noch Zeugen zurückblieben.«
»Um Stalin und Hitler ranken sich überhaupt viele Mythen«, bemerkte Sofja. »Ich habe zum Beispiel bei einem renommierten Historiker gelesen, dass sich Stalin 1938 einer Verjüngungskur unterzogen habe, dass ihm im Botkin-Krankenhaus Drüsen implantiert worden seien. Das ist natürlich kompletter Unsinn. Niemand hätte gewagt, Stalin fremde Drüsen einzusetzen, denn zu der Zeit wusste man noch nicht, wie man die Gewebeabstoßung, die Immunreaktion verhindern kann.«
Nolik antwortete nicht. Er schwieg mit gerunzelter Stirn und
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