Bis in alle Ewigkeit
Wer sind Sinas Eltern? Geht sie wirklich aufs Gymnasium, oder trägt sie die Schuluniform nur so?
»In den alten hinduistischen Prophezeiungen ist das Zeitalter, das auf das Kreuz folgt, mit einem roten Stern gezeichnet«, sagte Chudolej, »wir müssen auf einen Zeitenwechsel vorbereitet sein, auf das große Mysterium von Leben und Tod. Heutzutage bezeichnet sich jede Gemeinschaft von Schwätzern in Russland als Loge, jeder Gaukler gibt sich als Medium aus. Dieses Durcheinander ist von Vorteil für uns, denn es vernebelt den Uneingeweihten die Köpfe und schafft einen dichten konspirativen Schatten für uns.«
Ich bin ein Uneingeweihter, dachte Agapkin, in meinem Kopf herrscht auch Nebel. Chudolej sagt immer wieder, wir stünden außerhalb der Politik, ist aber Mitglied der Partei der Bolschewiki. Ihr Oberhaupt ist ein gewisser Uljanow-Lenin. Ein kleiner Glatzkopf mit schnarrendem »R«. Er schreibt viel, verworren und boshaft, propagiert die Gleichheit, hasst die Romanows und die orthodoxe Kirche. Er lebt abwechselnd in der Verbannung und im Ausland. Die Bolschewiki werden von den Deutschen finanziert, weil sie die schädlichste und verheerendstePartei für Russland ist. Chudolej lebt offen und unbehelligt in Moskau, ist nirgendwo angestellt. Die Armee nimmt ihn nicht. Vielleicht bekommt er nicht nur von den Deutschen Geld, sondern auch von der Geheimpolizei. Was hat das mit Hermes Trismegistos zu tun? Wieso hat Wolodja diesen Mann ins Haus gebracht? Und wieso habe ich ihm erlaubt, mir einen Strick um den Hals zu legen und mich von ihm an der Leine führen zu lassen wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank?
Mit diesen Gedanken war Agapkin beim Warten auf den Professor eingeschlafen, mit ihnen wachte er auch wieder auf. Im Labor war es dunkel. Im offenen Fenster hing die rosa Mondscheibe. Die Ratten in ihren Käfigen quiekten und wuselten herum. Es war die zweite Nachtstunde, sie müssten schlafen, doch der Vollmond machte sie unruhig. Das Licht brannte nicht, es war wieder einmal Stromsperre. Agapkin fand im Schrank Kerzen und Streichhölzer und ging in den dunklen Flur.
Aus dem Wohnzimmer drangen die Klänge einer Klaviersonate von Liszt. Tanja spielte leise, aber nervös, und verspielte sich oft. Agapkin wusste, dass sie mit diesem Spiel die Sehnsucht nach ihrem Oberst und die Sorge um ihn dämpfen wollte.
Bevor Agapkin ins Wohnzimmer ging, blies er die Kerze aus. Lautlos trat er ein und betrachtete Tanja eine Weile. Das flackernde Licht einer Petroleumlampe beleuchtete ihr Gesicht im Halbdunkel. Ihre Finger flogen über die Tasten. Der Luftzug aus dem offenen Fenster bewegte die hellen Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. Agapkin stand in der Tür, schaute Tanja an, lauschte der Musik, beruhigte sich und erholte sich von den quälenden Ängsten und Zweifeln. Doch diese Atempause endete zusammen mit dem Klavierspiel. Tanja hatte seinen Blick gespürt und drehte sich auf ihrem Hocker abrupt um.
»Verzeihung«, – Agapkin hustete heiser –, »ich war ganz ins Zuhören versunken.«
»Da gibt es nichts zu hören. Ich spiele grässlich.« Tanja stand auf und gähnte. »Bis zum Morgen wird der Strom bestimmt nicht wieder eingeschaltet. Lesen kann ich mit Petroleumlampe nicht, davon tränen mir die Augen, einschlafen kann ich auch nicht, also klimpere ich ein bisschen herum. Habe ich Sie geweckt?«
»Nein. Ist Michail Wladimirowitsch noch im Lazarett?«
»Er ist längst zu Hause und schlafen gegangen.«
»Was? Ich habe im Labor auf ihn gewartet«, murmelte Agapkin.
»Es ist doch sowieso kein Strom. Gehen Sie schlafen, Fjodor. Gute Nacht.«
Sie schlüpfte an ihm vorbei, ihr Haar streifte flüchtig seine Wange. Ihre Silhouette verschwand im Dunkel, und Agapkin spürte noch einige Augenblicke ihren Duft. Honig und Lavendel. Ihm war ein wenig schwindlig, er trottete ins Zimmer, legte sich auf sein Sofa und schlief unter Wolodjas dumpfem tiefem Schnarchen fest ein.
Die Klinik, die sich Colt ausgesucht hatte, lag in der Nähe eines kleinen Alpendorfs, auf dem Gelände einer Burg aus dem siebzehnten Jahrhundert, in einem kleinen, perfekt restaurierten Schloss. Neueste medizinische Geräte, allerhöchster Komfort, reinste Luft, schöne Landschaft, freundliches Personal – das alles stand Colt zu Diensten, alles lächelte, erfreute die Augen und verhieß absolutes Glück vom ersten bis zum letzten Augenblick des gebuchten Aufenthalts.
Die Untersuchungen dauerten zwei Wochen. Der Chefarzt der Klinik,
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