Bis in den Tod hinein
ließ ihn seinen äußeren Zustand einigermaßen ertragen. Gleich, wenn er sich wieder erhoben hatte, würde er sich mit einem freundlichen Dank verabschieden und den Park unverrichteter Dinge wieder verlassen, um sich, so schnell es nur ging, am ganzen Körper zu reinigen. Doch gerade als Anselm wieder aufrecht auf seinen Beinen stand, deutete Jurek auf den Boden.
» Sie haben da was verloren«, sagte er.
Anselm musste seinen Blick nicht senken, um zu wissen, was es war, das neben ihm im Schnee lag. Er hatte nämlich soeben bemerkt, dass seine linke Außentasche plötzlich viel leichter war als noch Sekunden zuvor.
» Warten Sie, ich hebe es auf.«
Drexler, der noch immer von seinem Sturz benebelt war, konnte nicht schnell genug reagieren. Machtlos sah er dabei zu, wie Kai Jurek den Elektroschocker aufhob, mit dem er eigentlich noch Sekunden zuvor hätte niedergestreckt werden sollen.
» Ist das…?«, fragte Jurek verwundert, doch noch ehe er eine Chance hatte, sich einen Reim auf die Situation zu machen, spürte er auch schon die Wucht eines Fausthiebes auf seinen Rippen.
Jureks Winterjacke hatte den Schlag etwas abgemildert, dennoch war er schmerzhaft gewesen. Anselm nutzte die Verwunderung seines Gegners, um mit einem Hieb in dessen Gesicht nachzusetzen. Die Wucht dieses zweiten Schlages war ungleich heftiger, denn dieses Mal hatten sich darin nicht nur Angst und Entschlossenheit, sondern auch Ekel und Enttäuschung entladen. Anselm hatte allerdings nicht bedacht, dass der Schlag gegen Jureks Unterkiefer auch für ihn selbst schmerzhaft sein würde. Mit einem hellen Schrei wich er erschrocken zurück und schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hand aus. Diese Gelegenheit nutzte Kai Jurek zum Gegenangriff. Mit dem ganzen Gewicht seines Körpers rammte er Anselm, der daraufhin erneut zu Boden ging und jetzt vor Jurek auf dem Rücken lag. Die Polaroidkamera, die er um den Hals getragen hatte, löste sich dabei und schlitterte über den eisigen Boden in ein kahles Gebüsch.
» Wer bist du?«, schrie der Angegriffene wütend und hielt den Elektroschocker dabei noch immer in seiner Hand.
» Die Frage ist doch viel eher, wer Sie sind«, erhielt er zur Antwort.
Kai Jurek betätigte den Auslöser des Geräts in seiner Hand und stellte dabei fest, dass es voll funktionsfähig war. Mit einem bedrohlichen Surren zuckten blaue Elektroimpulse zwischen den Metallkontakten auf. Anselm ging unterdessen im Geiste die Möglichkeiten durch, die sich ihm jetzt boten.
Wenn er die Polizei ruft, kann ich alles vergessen, wofür ich kämpfe. Mein ganzes Vermächtnis.
» Sie haben gedacht, es sei ganz einfach, oder?«, setzte Anselm daraufhin an, während er noch immer wehrlos auf dem Boden lag. » Einfach ein bisschen was erfinden, hier und da was weglassen– das kann ja sowieso keiner beweisen.«
» Wer bist du?«, wiederholte Jurek mit deutlichem Nachdruck.
» Ich bin nicht wichtig. Ich bin bloß jemand, der für etwas einsteht, das Ihnen allen nichts mehr bedeutet. Jemand, der tut, was andere längst vor ihm hätten tun sollen.«
Kai Jurek packte Anselm unsanft am Kragen und zog ihn mit einem auffallend kräftigen Ruck daran hoch. Drexler bekam dabei Halt unter den Füßen und schaffte es, sich ein weiteres Mal aufzurichten. Jetzt presste Jurek seinem Angreifer das Elektroschockgerät gegen den Hals und schnaubte voll blinder Entschlossenheit: » Rede, oder ich…«
» Wie gefällt es dir, tot zu sein?«
» Was?!«
Ein Knall hallte durch den nächtlichen Park. Er war nicht besonders laut, doch in der Stille trotzdem deutlich zu vernehmen. Und obwohl Kai Jurek beschlossen hatte, seinen Angreifer nun endgültig niederzustrecken, wollten seine Finger ihm dabei nicht mehr gehorchen. Der fremde Mann, den er noch immer fest am Kragen hielt, sah ihn dabei unverwandt und emotionslos an. So ganz anders, als man es von einem Menschen erwarten würde, der einen soeben getötet hat, dachte Jurek und konnte sich seinen eigenen Gedanken nicht erklären. Er spürte keinen Schmerz, verstand die Details nicht. Er konnte auch die Pistole nicht sehen, die an seinen Körper gepresst war, und die Kugel in seinem Körper bemerkte er schon gar nicht. Vielleicht roch es nach verbranntem Schwarzpulver wie an Silvester. Doch nichts davon fügte sich für Jurek jetzt noch zu einem klaren Bild. Geschweige denn zu der Erkenntnis, dass dieser Augenblick, so kalt, absurd und unerklärlich er auch sein mochte, unwiderruflich der letzte in
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