Bis in den Tod hinein
Aber du musst schlafen, dich erholen. Du ziehst dein Programm im Eiltempo durch und gönnst dir nicht mal einen einzigen freien Tag. Kein Wunder, dass du fahrig wirst und Fehler machst. Welchen Fehler machst du heute?
Olivia stellte das Wasser ab, um das Shampoo in ihren Haaren zu verteilen, das ihre Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Es roch nach Pfirsich. Olivia rümpfte die Nase, wie jedes Mal, wenn sie das Haarwaschmittel benutzte. Trotzdem massierte sie es sorgfältig in ihr Haar ein.
» Wie weit geht das Recht eines Intensivtäters auf Resozialisierung?«, hörte sie dabei eine Frau aus den Boxen ihres Fernsehers fragen.
In der Talkshow eines beliebten Journalisten diskutierte eine illustre Runde an diesem Abend über das Thema Verrohung der Jugend und darüber, wie man ihr am besten begegnen solle.
» Wie weit geht denn mein Recht darauf, keine abgedroschenen Phrasen mehr von Leuten hören zu müssen, die keine Ahnung von dem haben, worüber sie reden?«, antwortete Olivia genervt und stellte die Dusche wieder an, um sich das Shampoo aus den Haaren zu spülen.
Nachdem sie damit fertig war, zog sie sich den Bademantel über, der neben dem Heizkörper hing, schlüpfte in ihre bequemen Pantoffeln und schaltete den Wasserkocher in der Küche ein, um sich einen Tee aufzubrühen. Obwohl ihre Wohnung gut geheizt war, drehte sie den Thermostat noch etwas höher, bevor sie sich schließlich vor den Fernseher setzte und sich eine Decke über die Füße warf.
» Was muss sich eine Gesellschaft eigentlich alles gefallen lassen, bevor sie ein Recht darauf hat, solche Menschen für immer wegzusperren?«, erhitzte sich das Gemüt der Frau in der TV -Talkrunde weiter.
Olivia griff gerade nach der Fernbedienung, um auf einen anderen Sender umzuschalten, als sie plötzlich innehielt. Der junge Mann, der jetzt in einem kurzen Einspielfilm zu sehen war, kam ihr bekannt vor.
» Steve Moldenhauer«, stieß sie aus. » Der wäre doch perfekt für dich, Jack. Oder?«
Ohne den Blick dabei von ihrem Fernseher zu wenden, griff die Kommissarin zu ihrem Handy und rief ihre Kollegin Judith Beer an, die im LKA die Nachtschicht leitete.
» Was gibt’s denn?«, grüßte Beer, die offenbar sehr angespannt war.
» Habt ihr diesen Steve Moldenhauer im Blick? Über den wird in den letzten Tagen ziemlich viel diskutiert. Der wäre doch genau nach Jacks Geschmack, oder nicht?«
Judith Beer reagierte gelassen.
» Ja, da ist schon ein paar Mal die Streife vorbeigefahren. Ist alles ruhig. Er steht aber auch nur in der zweiten Reihe der Personen, die wir heute Nacht überwachen. Der ist zu jung für Jack. Und vergiss nicht, das ist die Hauptstadt! Wir haben eine ganze Menge prominenter Gewaltverbrecher. Moldenhauer ist einigermaßen sicher, seine Adresse ist bisher nicht durchgesickert.«
Olivia war sich natürlich im Klaren darüber, dass es dem Berliner Polizeiapparat schlicht unmöglich war, jeden infrage kommenden Straftäter umfassend zu überwachen.
» Na gut«, lenkte sie daher ein. » Aber ich habe ein blödes Gefühl dabei. Hast du was dagegen, wenn ich mal zu ihm rüberfahre?«
» Tu, was du nicht lassen kannst«, erhielt sie zur Antwort. » Wenn du mit deinem Feierabend nichts Besseres vorhast.«
Olivia sah auf den leeren Platz neben sich. Sie selbst hatte dort früher immer gesessen. Der Platz, auf dem sie jetzt saß, war Markos gewesen.
» Habe ich nicht«, antwortete sie kurz und beendete das Gespräch.
Sie wollte noch Severin Boesherz’ Nummer wählen, ließ aber gleich wieder davon ab.
Lass den mal seinen Abend mit Linda verbringen. Reicht ja, wenn einer von uns allein ist, befand sie, zog sich wieder an, steckte ihre Pistole ein und machte sich auf den Weg zu Moldenhauer.
36
Niemand durfte die Schreie hören. Das Gebäude, in dem Steve Moldenhauer wohnte, war groß, und um diese Uhrzeit waren fast alle Bewohner zu Hause. Der Fernseher, auf dem noch immer gescriptete Dokusoaps liefen, würde Anselm ein wenig Unterstützung bieten können, doch sein minutiös ausgearbeiteter Plan konnte unmöglich im Inneren der Wohnung ausgeführt werden. Anselm würde sich mit seinem Opfer auf den Balkon begeben müssen.
Bereits während Moldenhauers Überwachung war Anselm bewusst geworden, dass es sehr schwer sein würde, den jungen Mann allein anzutreffen. Wenn überhaupt, dann nur in dessen Wohnung, aus der er ihn in bewusstlosem Zustand aber nicht unbemerkt würde verschleppen können. Es schien daher
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