Bis ins Koma
nach Hause will.
Marvel sieht noch, während sein Kopf schon aufs Nackenpolster sinkt, dass die Drehbuchautoren ihm nachschauen.
Arschlöcher, denkt Marvel. Dann denkt er nichts mehr.
Als er aufwacht, stellt er erstens fest, dass er nicht in seinem Bett liegt, und zweitens, dass sein Kopf höllisch brummt. Seine Lider sind so geschwollen, dass er sie schlecht aufbekommt, deshalb braucht er lange, bis er sich orientiert hat.
Irgendwann wird ihm klar, dass es Nacht ist und er auf den Stufen vor der Haustür liegt.
Da hat dieser Arsch von Taxifahrer mich abgeladen, denkt er. Der weiß auch nicht, was sich gehört. Kann der mich nicht anständig nach Hause bringen? Wofür zahlt man eigentlich?
Er erinnert sich dunkel, dass er ihm einen Fünfzigeuroschein gegeben hat.
Er richtet sich behutsam auf, die Hände gegen die Schläfen gepresst. Schön ist, dass ihm nicht übel ist. Sein Magen macht gut mit. Marvel nickt zufrieden. Geht doch.
Gegen die Kopfschmerzen gibt’s Tabletten. Gut, wenn man eine Mutter hat, die im Krankenhaus arbeitet.
Er sitzt auf der Treppe, zusammengeklappt wie ein Taschenmesser, Hände und Füße auf dem Boden. Langsam drückt er die Knie durch. Alles geht gut.
Na prima, denkt Marvel, wer sagt’s denn.
Er stützt sich an der Haustür ab und schiebt sich langsam in eine aufrechte Position. Vom Affen zum Menschen, denkt Marvel grinsend. Wie leicht das geht. Und dafür haben wir Jahrtausende gebraucht, wenn nicht mehr.
Er fingert nach seinem Haustürschlüssel. Jetzt muss er noch die knifflige Aufgabe lösen, den Schlüssel in dieses kleine Haustürschloss zu stecken.
Das dauert, aber es klappt.
Automatisch geht im Flur das Licht an.
Er lässt die Haustür hinter sich ins Schloss fallen, dann klammert er sich ans Treppengeländer und zieht sich Stufe für Stufe nach oben.
Im ersten Stock muss er pausieren. Er steht am Geländer, den Kopf auf der Brüstung, und lauscht auf sein pochendes Herz. Ihm ist schwindlig, aber schlecht ist ihm nicht.
»Guter Magen«, murmelt er, »braver Magen.«
Dann zieht er sich am Treppengeländer Stufe für Stufe in die zweite Etage hoch.
Da ist die Wohnungstür.
Er atmet tief durch. »Geschafft!«
Der zweite Schlüssel, der nächste Kampf mit einem Schloss.
Wieder ein Sieg. Marvel ist so erleichtert, dass er zusammen mit der Tür fast in den Flur fällt.
Da hört er sie lachen! Seine Mutter! Lacht! Zum ersten Mal, seit sie damals das Haus verlassen haben, hört er seine Mutter lachen und denkt: Scheiße, ich bin besoffen.
Musik. Und dann noch eine Stimme. Die Stimme von DocMike. Er erzählt etwas und wieder lacht seine Mutter hellauf. So wie junge Mädchen lachen. So fröhlich.
Marvel muss sich jetzt konzentrieren. Er muss an der halb offenen Wohnzimmertür vorbei unbemerkt in sein Zimmer.
Aber vorher muss er den Umweg über das Klo nehmen.
Oder nein, denkt er, besser erst ausziehen, dann aufs Klo.
Er tastet sich vorwärts, hält dabei die Luft an. Beim Luftanhalten wird ihm leicht übel, deshalb gibt er den Plan auf und atmet lieber ganz leise durch die Nase.
»Und was passierte dann?«, ruft seine Mutter. »Ich kann nicht mehr! Das ist so urkomisch!«
»Ja genau«, sagt DocMike und dann wird die Musik etwas lauter, und als sie leiser wird, hört Marvel: »… nass wie die Pudel … und … meine Brille …«
»Hör auf!«, kreischt seine Mutter. »Hör auf, mir platzt gleich der Bauch vor Lachen!«
Marvel ist in seinem Zimmer, drückt die Tür behutsam zu. Lehnt sich dagegen. Atmet. Ruhig. Tief. In seinem Kopf dreht sich langsam ein Karussell. Er wartet, bis das Karussell zum Stillstand kommt. Dann öffnet er vorsichtig die Augen.
Das Zimmer ist stockdunkel. Aber er weiß ja, wo der Lichtschalter ist.
Er wirft sich mit seinen Klamotten aufs Bett und wartet wieder. Darauf, dass das Herzrasen nachlässt. Dass die Kreise vor seinen Augen konzentrisch werden. Dass die Zimmerdecke sich ihm nicht mehr entgegenwölbt. Dann erst zieht er sich aus,
schleicht auf Zehenspitzen ins Gästeklo, drückt nur ganz kurz die Spülung und schleicht wieder zurück.
Seine Mutter lacht nicht mehr, aber DocMike redet immer noch.
Dieser Mann ist Gold wert, denkt Marvel, der hält mir den Rücken frei.
Dass er einen so großen Gedanken denken kann, macht ihn sekundenlang fast stolz. Aber dann, im Bett, ist das Karussell wieder da und es ist größer und macht verrückte Loops und schmeißt seinen Mageninhalt an die Zimmerdecke und wieder zurück. Er krallt
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