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Bis zum Hals

Bis zum Hals

Titel: Bis zum Hals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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übertrieben viel Text.
     
     › Von meinem Haus
    In den Morgen gehe ich
    Hinunter zum Ufer
    Wo mein Nachen wartet
    Lass ich mein Herz zurück
    Damit es noch schlägt
    Für dich
    Auch wenn ich draußen bleibe ‹
     
    Annette von Droste-Hülshoff hätte das nicht anrührender ins Versmaß zwingen können, dachte ich.
    Darunter stand eine nichtssagende Kombination von Zahlen und Buchstaben, gefolgt von der Endung »@iniweb.ru«.
    »Sieht aus wie der Entwurf für eine E-Mail«, dachte ich laut. »Bloß – wer geht hin und entwirft E-Mails?«
    »Wer schreibt schon Liebesgedichte in einem Internet-Café?«, konterte Leonid.
    Auch wieder wahr. Trotzdem erschien es mir blödsinnig, mir den halben Tag um die Ohren geschlagen zu haben für ein sülziges Stückchen Poesie. Von den möglicherweise letzten überlieferten Worten eines Ermordeten hatte ich mir etwas mehr Substanz, Drama und vor allem ein paar Namen, Daten und Fakten gewünscht. Obwohl » Auch wenn ich draußen bleibe « schon eine gewisse düstere Prophetie beinhaltete.
    Hm. Ich schlürfte meinen lauen Tee, und die Mittagshitze jagte ihn mir gleich durch die Poren wieder raus.
    Eine blondierte Mattka mit zwei rosigen, aufgedunsenen Blagen im Schlepptau watschelte vorbei, alle mit Brötchen in gleich beiden Händen, aus denen triefende Bratwürste lugten, und zwischen Bissen verstrickt in einen entnervend schrillen Wortwechsel in einer ruppigen, wie zum Keifen gemachten Sprache, die ich nicht kannte und schon gar nicht verstand.
    »Ukrainer«, meinte Leonid düster und spuckte ins Gras. »Wer immer diesen Leuten unsere Atomtechnologie verkauft hat, hätte von Anfang an in Tschernobyl an den Reaktor gekettet werden sollen.«
    Irgendwas an dieser Bemerkung brachte meine Gedanken wieder auf Kurs.
    »Sag mal, Leonid, wohnen hier eigentlich außer dir noch andere Russen?«
    Er schüttelte betrübt den Kopf. »Nur einer. Aber den habe ich auch schon über eine Woche nicht mehr gesehen.«
    Viel hätte nicht gefehlt, und ein Ruck wäre durch mich gegangen, ich bekam mich so gerade noch gebremst.
    »Mittelgroß, blond, schmale Statur?«, fragte ich. Leonid sah mich erstaunt an und nickte.
    Ganz, ganz langsam erhob ich mich auf meine Beine. Kramte den kleinen, abgegriffenen Schlüssel aus meiner Hosentasche, den ich unterm Pedalgummi von Dimitrijs Lada gefunden hatte.
    »Komm«, sagte ich. »Zeig mir doch mal, wo er wohnt, dein russischer Freund.«
     
    Der Schlüssel passte. Mein Puls pulste. Unwahrscheinlich, dass jemand daheim war, trotzdem klopfte ich ein paarmal an, bevor ich die Tür öffnete und vorsichtig eintrat. Es war eine dieser großen, kantigen Wohnbaracken, deren winzige Räder nur eine Alibifunktion haben und damit irgendeine bedauerliche Gesetzeslücke ausnutzen, mit einem halben Dutzend Schlafplätzen, Küche, Bad und was es sonst noch braucht. Von den Schaumstoffmatratzen einmal abgesehen, wirkte die Einrichtung so, als sei sie von vorneherein für regelmäßige Reinigungen mit dem Dampfstrahler konzipiert worden. Wände, Decken, Boden, Möbel, sämtliche Oberflächen waren abwaschbar. Alles in allem ein prächtiges Ambiente, um sich ohne Scheu und guten Gewissens die Pulsadern zu öffnen.
    Unter Leonids desinteressiertem Blick ging ich einmal gründlich von vorne nach hinten und von oben nach unten durch die ganze Bude, zog alles auf, drehte alles um, verschob und linste unter und hinter alles, was nicht festgeschraubt oder -genietet war. Außer ein paar sommerlichen Anziehsachen und den üblichen Toilettenartikeln fand ich nichts Persönliches, noch nicht mal ein Buch. Ja, einmal abgesehen vom Mietvertrag für die Hütte und einer Quittung für die Miete bis Ende des Monats gab es hier überhaupt nichts Schriftliches. Und erst recht kein Geld oder sonst etwas von Wert, das ich Anoushka hätte mitbringen können. Der einzige Gegenstand von zumindest theoretischem Interesse für mich war klein und schwarz. Ein Ladegerät. Der Firma Nokia. Hm.
    Ich trat wieder raus in die Strahlung. Leonid saß gleichmütig im schmalen Schatten der Behausung.
    »Der Mann, der hier gewohnt hat, ist derselbe, den ich überfahren habe. Hast du ihn gut gekannt?«, fragte ich.
    Er zog ein Gesicht, schüttelte den Kopf.
    »Weißt du, als ich hörte, da ist ein Landsmann eingezogen, da hab ich mir sofort ein Fläschchen geschnappt und bin rüber, ihn willkommen heißen, doch – soll ich dir was sagen – er wollte mich noch nicht mal zur Türe hereinlassen. So was, Kristof,

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