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Bis zum Hals

Bis zum Hals

Titel: Bis zum Hals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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vor Tinas Mietshaus und hupte fröhlich.
    »Wie – nicht da?! « Tinas Kristalllüster klirrte, so laut war ich geworden. »Was soll das heißen: Nicht da? Wo soll sie denn hin sein? Das geht doch nicht, sie kann doch nicht weg sein? Hat sie denn nichts gesagt? Keinen Zettel hinterlassen?«
    Allmählich gingen mir die Phrasen aus.
    »Oder sonst was?«
    Tina blickte schuldbewusst und verschlafen drein, während ich von Anoushkas Schlafkammer zum Bad, zur Küche, in Tinas Schlafzimmer und wieder zurück hastete, Türen und Schränke aufriss und zuschmiss und mich alles in allem kopflos gebärdete.
    »Wo soll sie denn hin sein?«, wiederholte ich. »Warum hast du mich nicht angerufen?« Hatte ich auch schon gefragt.
    Genauso wie rund vierzigmal Dimitrijs Handy angerufen.
    »… zurzeit nicht erreichbar.« Himmelarsch.
    Dann beruhigte ich mich zwangsweise. Nichts deutete auf eine Entführung hin.
    Anoushkas Bett war akkurat gemacht. So ein ordentliches Mädchen. Und ihr Koffer, ihr geliebter Koffer, ihr ganzer Besitz, lag akkurat darunter.
    »Sie kommt wieder«, sagte ich.
     
    Irgendetwas hatte ich übersehen. Irgendwas in, irgendwas am, irgendwas um den Campingwagen herum.
    Ich ließ den Wagen laufen, den Diesel brummeln, Handy in Griffweite, dachte nach.
    Der Himmel war verschleiert, diesig, die Sonne nicht sichtbar, und doch wurde man das Gefühl nicht los, sie käme näher. Und näher.
    Zuerst war ich dankbar für die Aircondition des Hummers gewesen, doch dann wurde es mir, aller gigantischen Abmessungen dieser Karre zum Trotz eingepfercht zwischen der Tür, der direkt vor der Fahrernase angebrachten Windschutzscheibe und einem Getriebetunnel wie dem eines Ozeanriesen, sehr rasch sehr eng. Also ließ ich die Seitenscheibe runter, um den Ellbogen rauszuhängen, und die hereinströmende Heißluft machte den Effekt der Klimaanlage mehr oder weniger komplett zunichte.
    Irgendwas war mir entgangen, ich wusste es, und es machte mich rasend.
    Der Schlagbaum war runter, also parkte ich vor dem Gelände.
    Der Platzwart meinte, mich anmaulen zu müssen, also maulte ich zurück, und er maulte mir noch etwas hinterher, das ich ignorierte.
    Camper saßen und aßen, ihre Kinder plantschten und kreischten. Sie alle nahmen eine Auszeit vom Gezerre des Lebens, und recht hatten sie.
    Das ausgebrannte Wrack war unverändert. Hier war nichts zu finden. Dimitrij hatte etwas zu verkaufen gehabt, so viel stand mittlerweile fest, etwas Illegales, so viel war auch sicher, etwas, das er verstecken musste, damit man ihm den Besitz nicht unmittelbar nachweisen und ihn auch nicht so ohne weiteres beklauen konnte.
    So.
    Außerdem hatte er berechtigte Sorgen, dass man ihn – wegen seiner Handelsware oder wegen etwas anderem – umbringen wollte. Weil, sonst hätte er das Gedicht nicht geschrieben, wie mir mit ebenso plötzlicher wie fantastischer Klarheit bewusst wurde.
    Es war einer dieser Augenblicke, in denen man sich die Hand vor die Stirn klatscht, ob man nun will oder nicht.
    Das Gedicht – irgendwas » Vom Haus in den Morgen … «
    Osten, verflucht noch mal. Vom Campingwagen aus.
    » Runter ans Wasser « oder » ans Ufer « oder so. Bloß, der See lag im Westen, vom Wrack aus.
    » … geh ich. « Nicht fahr, nicht flieg, sondern geh. Also, rein ins Gebüsch.
    Keine zweihundert Meter, ungezählte Mückenstiche, zwei größere Brennnesselfelder und fünf geschickt auf Kopfhöhe angebrachte Spinnennetze weiter schimmerte ein Gewässer durchs Blattwerk.
    Ein Löschteich, mindestens zur Hälfte voll breiigen Froschlaichs, mit dem ich mal jemanden löschen sehen möchte.
    » Wo der Nachen dümpelt « , oder sonst ein Quark.
    Ein Steg. Ein Angelsteg, ohne jeden Nachen, doch wenn man einen hätte, um den Glibber damit zu kreuzen, hier würde man ihn festzurren.
    » Lass ich mein Herz zurück, damit du damit dealen kannst, sollte ich vorher abgemurkst worden sein. «
    Aaah, so offensichtlich, jetzt. Es tat weh.
    Ich bückte mich. Spähte unter den Steg.
    Zu spät.
    Kein Herz zu finden, nicht mehr. Nur ein recht frisches Loch in der Erde. Und noch was. Zwar nichts von Wert, aber doch etwas von Interesse.
    Es war ein Schuh. Ein schmaler Schuh. Mit einer kleinen Schleife obendrauf.
    Und damit hatte ich auch die Antwort auf die Frage, die ich mir nie gestellt hatte, nämlich, wo Anoushka sich mitten im hochsommerlich ausgedörrten Wald so lehmige Hände, Füße und Knie geholt hatte.
    Und wieso, jetzt, wo ich einmal dabei war, wieso mir ihr Koffer

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