Bis zum letzten Atemzug
musterte das Gesicht jedes einzelnen Schülers, versuchte, sich jede Sommersprosse, jede Zahnlücke, jede zerzauste Frisur einzuprägen.
Es ist einfach zu schade, dachte sie, dass ihr letztes Bild von mir das in einem zerknautschten, blutbefleckten, ehemals mit Strasssteinen besetzten Jeanskleid ist. Sie nahm an, dass ihre Haare durcheinander waren, und wie ihr Gesicht aussah … daran wollte sie gar nicht denken. Sie schnippte mit den Fingern und zeigte auf die Tür. Sofort gingen die Kinder in geordneten Reihen an dem bewaffneten Mann vorbei, die Blicke stur auf Mrs Oliver gerichtet.
»Beth«, murmelte Mrs Oliver durch ihren gebrochenen Kiefer, und Beth, die immer noch leise weinte, kam zu ihr herüber, die Hand ihrer Schwester fest umklammert. »Nimm die Kinder mit«, sagte Mrs Oliver und berührte sanft Beths Arm. Beth nickte zustimmend. »Geh und sieh dich nicht um.« Mrs Oliver schaute zu dem bewaffneten Mann, dann wanderte ihr Blick zu dem Schrank, in dem Lucy immer noch eingesperrt war.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein.« Mrs Oliver wollte mit ihm diskutieren, doch seine Stimme verriet ihr, dass es keine weiteren Verhandlungen mehr gäbe.
»Jetzt geh.« Mrs Oliver drückte Beth vorsichtig in Richtung Tür. Die Kinder folgten ihr in einer ordentlichen Zweierreihe, genau so, wie sie es ihnen beigebracht hatte.
MEG
An Cal Oliver ist alles lang. Er ist groß mit langen Gliedmaßen, langen Fingern, einer langen Nase, einem langen Gesicht, das durch seine heruntergezogenen Mundwinkel noch länger aussieht. Er bückt sich beim Eintreten und schaut sich unsicher im Wohnmobil um.
»Cal.« Chief McKinney erhebt sich und streckt Cal die Hand entgegen. Bevor er uns alle vorstellen kann, fängt Cal schon an, über den Anruf zu sprechen.
»Warte eine Sekunde, Cal«, unterbricht ihn der Chief. »Bitte, setz dich und fang noch einmal ganz von vorne an.«
Cal hockt sich auf die Ecke eines Campingstuhls und atmet tief durch. »Ich war drüben im Lonnie’s «, fängt er an, »als mein Handy klingelte. Ich sah sofort, dass es Evie war.« Auf Swains fragenden Blick hin ergänzt er: »Meine Frau, sie ist Lehrerin der dritten Klasse auf der Schule.« Als Swain verstehend nickt, fährt er fort. »Ich ging ran und hörte als Erstes einen Jungen schreien. Es war schwer zu verstehen, was genau er sagte, alles klang so gedämpft.« Mr Oliver fährt sich mit der Hand über die buschigen weißen Augenbrauen, die seine wässrig braunen Augen umrahmen. Ich frage mich, ob sie vom Alter feucht sind, von der beißenden Kälte oder vor Sorge. »Dann höre ich Evie sehr laut sprechen. Sie sagt, wie dankbar sie ist, dass niemand verletzt wurde, und irgendetwas über eine Lucy in einem Schrank.«
»Ihre Frau hat gesagt, dass niemand verletzt wurde?«, hake ich nach.
»Es wirkte nicht so, als würde sie mit mir sprechen, sondern mehr, als würde sie wissen, dass ich zuhöre. Wie auch immer, sie sagte dann noch, dass er nichts in ihrem Klassenzimmer zu suchen hätte.«
»Sie wusste nicht, wer er war?«, fragt Chief McKinney. Mr Oliver schüttelt hilflos den Kopf.
»Sie hat keinen Namen genannt, aber ich weiß es nicht.« Mr Oliver zieht ein sorgfältig zusammengefaltetes Taschentuch aus seiner Manteltasche und putzt sich die Nase. »Dann hörte ich ein polterndes Geräusch, und dann hat Evie geschrien.« Mr Oliver neigt seinen Kopf so tief, dass seine Nase beinahe seine Knie berührt. Seine Schultern zucken unter lautlosen Schluchzern. »Sie hat mir gesagt, dass sie mich liebt, und dann war sie weg.«
AUGIE
Irgendetwas geht in der Klasse vor sich. Ich höre das Schaben von Stühlen, die zurückgeschoben werden, und Schritte, die über den Boden eilen. Ich halte den Atem an und versuche, mich so klein wie möglich zu machen, aber wenn der Mann in den Flur kommt, wird er mich kaum übersehen können.
Plötzlich öffnet sich die Klassentür, und Beth tritt heraus. Sie hält die Hand ihrer kleinen Schwester und geht ohne den geringsten Blick in meine Richtung den Flur hinunter. Ich beobachte, wie die Kinder hinter ihr hergehen und immer schneller und schneller werden, bis sie schließlich rennen. In dem Wirbel aus Turnschuhen, die wie Donner den Flur hinunterlaufen, versuche ich, P. J.s Schuhe auszumachen. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich sie nicht entdecken kann. Die Kinder strömen immer weiter an mir vorbei, doch kein P. J. in Sicht. »Hey«, rufe ich von meinem Platz unter der Trinkwasserfontäne. Niemand verlangsamt
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