Bis zum letzten Atemzug
Baseballkappe und den Handschuhen und den Jahren, die seitdem vergangen waren, vorbei zu sehen. Er könnte es sein, dachte sie. Es wäre durchaus möglich.
Kenny Bingley. Er war ein hoch aufgeschossenes Kind gewesen mit langen Beinen und überproportional kurzen Armen. Wie Bohnenkraut, hatte ihre Mutter immer gesagt. Ja, der Mann könnte durchaus Kenny Bingley sein. Er hatte das richtige Alter – um die vierzig. Dazu braune Haare und gemeine Augen. Kenny Bingley war vermutlich der Schüler, der sie am meisten um den Schlaf gebracht hatte. Er kam jeden Tag zu spät zum Unterricht – wenn er überhaupt erschien. Ein leicht muffiger, feuchter Geruch hing an seiner blassen Haut, als wenn seine Kleidung einfach in eine Ecke geworfen und dort vergessen wurde, bis er sie wieder anziehen musste. Egal, wie ein Kind war, wo es herkam, unter welchen Umständen es lebte, Mrs Oliver war es immer gelungen, einen Funken der Neugierde und des Staunens in den Augen ihrer Schützlinge zu finden. Doch beim achtjährigen Kenny gab es in den Augen, die über blauen Schatten lagen, keinen Funken, kein Interesse und keine Begeisterung für die Welt. In ihnen sah sie nichts. Nur eine unheimliche Ruhe. Er störte den Unterricht nicht aktiv, aber der Ärger schien sein steter Schatten zu sein, wohin er auch ging. Fußballspiele in den Pausen endeten mit blutigen Nasen, Geld fürs Mittagessen verschwand, Klassenhaustiere starben unter verdächtigen Umständen. Aber nie hatte sie Kenny irgendetwas davon nachweisen können. Sie nahm an, dass er von seiner Mutter misshandelt wurde, doch es gab nie blaue Flecken, keine Beweise, nur diese Aura der Unnahbarkeit und seinen leeren Gesichtsausdruck.
In der Woche, in der Kenny der Schule verwiesen wurde, geschahen zwei Sachen. Auf den Stufen vor dem Eingang der Schule wurde eine Ohrenlerche gefunden, der beide Beine gebrochen worden waren. Wieder einmal hatte Mrs Oliver keinerlei handfeste Beweise dafür gehabt, dass Kenny derjenige gewesen war, der diesen schönen Vogel tödlich verwundet hatte. Doch sie war diejenige gewesen, die ihn mit unnatürlich verdrehten Beinen gefunden hatte. Sie war auch die Einzige, die das angestrengte, hohe Fiepen des Vogels gehört zu haben glaubte.
Der zweite Vorfall drehte sich um eine Schere und ein sehr hübsches Mädchen aus der dritten Klasse namens Cornelia Patts. Sie war für einen Moment ein Stück auf den Korridor hinausgetreten, hatte den Klassenraum noch nicht einmal ganz verlassen. Der Rektor, Mr Graczyk, hatte eine Frage an sie und sie dafür zur Tür gerufen. Ehe sie sich versah, schrie die arme Cornelia laut auf und umklammerte ihre blutige Hand. »Er hat auf mich eingestochen«, rief sie ungläubig. Mr Graczyk stürmte in den Klassenraum und zerrte Kenny von seinem Stuhl. Die blutige Schere lag vor ihm auf dem Tisch. Während Mrs Oliver die Wunde mit einem sauberen Stofftaschentuch verband, herrschte im Raum vollkommene Stille. Nur das leise Schluchzen von Cornelia war zu hören.
Kenny wurde von Mr Graczyk aus dem Klassenzimmer geführt. Er hatte seine dünnen, blassen Lippen fest zusammengepresst, seine Schultern waren gebeugt wie Schilfgras im Wind, und er pfiff eine hohe, schiefe Melodie, die dem Todesgesang der Lerche ähnelte, die Mrs Oliver auf den Stufen der Schule gefunden hatte.
Der Mann mit der Waffe vor ihr konnte durchaus Kenny Bingley sein. Er war nach diesem Tag nie wieder in die Schule zurückgekehrt, man hatte ihn sofort suspendiert, und Mrs Oliver hatte nie erfahren, was aus ihm geworden war, obwohl sie oft nach ihm fragte. Sie beschloss, ihre Theorie zu testen, und fing an, die Melodie der sterbenden Lerche zu pfeifen. Erst unsicher und leise, dann immer lauter. Der Mann, der mit der Pistole auf dem Schoß auf einem hohen Stuhl im vorderen Teil des Klassenzimmers saß, schaute sie aus kalten, emotionslosen Augen an. »Kenny Bingley«, sagte sie fest. »Du musst jetzt sofort mit diesem Unsinn aufhören.«
MEG
Schreie erheben sich aus der Menge, als ein Stuhl krachend durch ein Fenster fliegt. Genau wie meine Kollegen ziehe ich sofort meine Waffe und schaue voller Staunen zu, wie eine rosafarbene Gestalt aus dem Fenster purzelt. Ich weiß sofort, dass es nicht der Bewaffnete ist. Es ist Gail Lowell, die ältliche Sekretärin der Schule. Sie trägt keinen Mantel, sondern nur ihren pinkfarbenen Pullover und klobigen Schmuck. Ihre Kette und die Armbänder klimpern fröhlich vor sich hin, während sie sich vorsichtig einen Weg durch
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