Bis zum letzten Atemzug
von diesem Mann auf einen Schlag zerstört worden. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr empörte sie sich. Würden die Kinder Albträume haben? Würden sie anfangen zu schwitzen und zu zittern, wenn die Busse sich morgens dem Schulgelände näherten? Würden ihre Mägen sich zusammenziehen und wie Feuer brennen, wenn sie über die Treppen und durch die Korridore des Schulgebäudes zu ihrem Klassenraum liefen? Posttraumatisches Stresssyndrom nannte man das heute, und es handelte sich um eine anerkannte psychologische Störung. Ihr würde das Herz brechen, wenn das alles war, was diese Kinder als Erinnerung an ihre dritte Klasse behalten würden. » Wie hieß deine Lehrerin in der dritten Klasse? « , würden die Leute fragen, und die Kinder würden antworten: » Ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen, aber ich weiß noch zu gut, wie eines Tages dieser bewaffnete Mann in unseren Klassenraum eindrang. «
»Bewaffnet?«, würde die andere Person fragen. »Was hat eure Lehrerin da gemacht?«
Bei dieser Frage würden ihre ehemaligen Schüler nur traurig den Kopf schütteln, die Hände tief in den Taschen vergraben und sagen:» Nichts. Rein gar nichts. «
Mrs Oliver wusste, dass sie langsam ein gewisses Alter erreicht hatte. Sie hatte schon öfter als sie zugeben wollte auf die Frage antworten müssen, wann sie denn endlich in den Ruhestand gehen und anfangen würde, ihr Leben zu genießen. Sie wusste, dass es ihr an manchen Tagen schwerfiel, mit ihren Schülern mitzuhalten, dass sie sich mehr als einmal dabei ertappt hatte, vorne an ihrem Pult einzunicken. Einmal, während Jillie Quinns Referat über Pinguine, hatte sie sogar leise geschnarcht. Zum Glück war P. J. Thwaite der Einzige, der es bemerkt und ihr zugeflüstert hatte, sein Großvater würde sonntagmorgens vier Tassen starken Kaffee trinken, um zu verhindern, dass ihm im Gottesdienst das Gleiche passierte.
Auf gar keinen Fall würde Mrs Oliver auf diese Weise gehen. Sie würde nicht im kommenden Juni in Rente gehen als die Lehrerin, die nichts getan hatte. Sie wollte nicht, dass die letzten Erinnerungen ihrer Schüler, bevor die Schule geschlossen wurde und sie auf die umliegenden Schulen verteilt wurden, Erinnerungen an Terror und Schrecken waren. Lieber würde sie sterben. In ihrem Kopf konnte sie Cals Stimme hören, der versuchte, sie zur Vernunft zu bringen.» Aber Evie «, würde er beruhigend sagen; sie spürte beinahe seine Hand auf ihrem Arm. » Glaubst du wirklich, es wäre besser für die Kinder, wenn sie mit ansehen müssten, wie ihre Lehrerin erschossen wird? «
Damit hatte er natürlich recht, wie meistens, aber etwas zu unternehmen hieß ja nicht gleich, dass sie sterben musste. Sie ging in Gedanken die potenziellen Waffen durch, die ihr zur Verfügung standen – Scheren, Tacker, Reißzwecken. Es musste doch einen Weg geben, den Mann lange genug handlungsunfähig zu machen, um die Kinder in Sicherheit zu bringen.
Der Mann schaute von seinem Telefon auf und ertappte Mrs Oliver dabei, wie sie ihn anstarrte. »Was ist?«, fragte er. »Haben Sie noch nie ein Handy gesehen?«
Sie beschloss, sich dumm zu stellen. Das tat sie zwar nicht gerne, aber vielleicht würde ihre vermeintliche Begriffsstutzigkeit ihnen allen später noch zugutekommen.
»Mein Mann glaubt nicht daran«, sagte sie zurückhaltend.
»Wie? Das ist doch nicht der Osterhase.« Einige Köpfe schossen hoch, und ihre Schüler schauten Hilfe suchend in ihre Richtung.
Sie starrte den Mann an. Es war nicht nötig, den Kindern alle Illusionen zu rauben. Der Mann schien es jedoch nicht zu bemerken und widmete sich wieder seinem Telefon. Wenn sie ehrlich war, hielt Mrs Oliver sich sogar für technisch sehr begabt. Sie verbrachte Stunden damit, die neuesten Programme zu 1ernen, und wenn ihre Kollegen beim Erstellen von PowerPoint-Präsentationen oder Tabellenblättern Hilfe brauchten, wandten sie sich oft an Mrs Oliver. Cal war auch ein großer Freund von Handys und hatte darauf bestanden, dass Mrs Oliver sich aus Sicherheitsgründen eines zulegte. Es steckte in der Reißverschlusstasche ihrer schwarzen Lederhandtasche, die wiederum in der unteren linken Schublade ihres Schreibtischs lag. Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, an ihr Telefon zu kommen, könnte sie der Polizei sagen, dass der Mann hier, in ihrem Klassenraum, war, und mit seiner Pistole herumwedelte. Sie würde weiter abwarten. Wenn es drauf ankam, konnte Mrs Oliver eine sehr geduldige Frau sein.
MEG
Chief
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