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Bis Zum Letzten Tropfen

Bis Zum Letzten Tropfen

Titel: Bis Zum Letzten Tropfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Huston
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hat ihnen auch noch das kleinste bisschen Selbstachtung ausgetrieben. Schon allein die Namen, die er ihnen verleiht. Haben Sie sie mitbekommen? Versager. Plagegeist. Bürde.
    Sie blinzelt langsam mit ihrem verbliebenen Auge, als würde irgendetwas auf der Linse kleben.
    – Es ist meine Schuld. Ich hatte nicht bedacht, wie er selbst auf diese Isolation reagieren würde. Ich habe vergessen, dass er ein Findelkind ist. Er war verloren, verirrt – bis ich ihn in meine Obhut nahm und seinem Leben ein Ziel gab. Ich habe die Ausbildung, die ich ihm zuteilwerden ließ, weit überschätzt. Als er erst einmal hier war, in diesem Außenposten, umgeben von Wilden, wurde er zwangsläufig zum Produkt seiner Umgebung.
    Sie fährt mit einem Finger über das Narbengewebe auf ihrem Gesicht.
    – Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich das Opfer meines Stolzes und meiner Zuversicht wurde.
    Sie sieht mich an.
    – Da stimmen Sie mir doch zu, nicht wahr, Mr. Pitt?
    In meinen Eingeweiden bewegt sich etwas. Die Haut hat sich über der Schusswunde geschlossen, doch das Vyrus ist immer noch schwer damit beschäftigt, meine Organe wieder zusammenzuflicken. Ich grunze, atme aus und versuche, mich nicht zu heftig zu bewegen.
    – So kann man’s sicher auch ausdrücken, ja. Mir sind sie einfach nur mächtig auf die Eier gegangen.
    Irgendetwas in mir zappelt und windet sich. Als würden spitze Nägel in meine Eingeweide gerammt. Ich grunze noch mal.
    Sie setzt die Brille wieder auf und mustert mich durch die schmalen Gläser.
    – Unbequem, Mr. Pitt?
    Ich nicke.
    – Ja, schon.
    Sie nickt.
    – Kann ich etwas für Sie tun?
    Darüber muss ich einen Augenblick nachdenken. Ob die Rekrutierungschefin der Koalition und oberste Ausbilderin ihrer Schlägertrupps etwas für mich tun kann?
    Glaube schon.
    – Na ja, Lady. Vielleicht könnten sie mich einfach erschießen, anstatt mich totzulabern?
    Sie wirft einen Blick über die Schulter zu der jungen Frau mit der effizienten Maschinenpistole.
    – Sie erschießen?
    Dann wendet sie sich wieder mir zu.
    – Nein, Mr. Pitt. Das werden wir nicht.
    Sie geht langsam und für eine Frau ihres Alters ziemlich anmutig in die Hocke.
    – Erschossen werden Sie in nächster Zeit wohl nicht.
    Sie streckt die Hand aus und legt die Spitze ihres Zeigefingers auf meinen Wangenknochen.
    – Die Zukunft hält etwas anderes für Sie bereit.
    Sie drückt sanft auf meine Wange und zieht die Haut unter meinem Auge zur Seite.
    – Übrigens, Mr. Pitt – Sie haben behauptet, Sie hätten mir bei unserem letzten Zusammentreffen ein Auge entfernen dürfen . Und obwohl ich keinen Zweifel an meiner Freigiebigkeit aufkommen lassen will, so entspricht es doch den Tatsachen, dass es keinesfalls als Geschenk gedacht war.
    Sie hebt den Finger.
    – Und daher bin ich nach wie vor der festen Ansicht, dass sie mir noch etwas schuldig sind.
    Sie reißt den Mund auf und macht sich an die Arbeit, damit wir endlich quitt sind.
     
    Irgendwann geht man davon aus, dass die Schmerzgrenze erreicht ist. Nachdem man so und so oft aufgeschlitzt, angeschossen, verprügelt, ausgepeitscht, vertrimmt, zusammengeschlagen und verstümmelt wurde, glaubt man einfach, dass man das Schlimmste hinter sich hat und in Sachen Schmerz keine großen Überraschungen mehr erleben wird.
    Und dann kommt jemand daher und beweist einem das Gegenteil.
    Da kann man nicht anders, man muss seine tiefe Dankbarkeit für diese Lektion einfach herausschreien.
    Ich schreie. Als mir diese irre alte Frau mein Auge aus dem Kopf beißt, schreie ich wie selten zuvor in meinem Leben. Denn es gibt Dinge, die sind wirklich zum Fürchten.
    Aber wahrscheinlich muss man sie selbst erlebt haben, um das zu begreifen.
     
    – Weil ich ein Recht darauf hatte.
    – Mrs. Vandewater, ich werde nicht mit Ihnen über die Gründe für Ihr Handeln streiten. Ich will nur noch einmal betonen, dass Ihr Auftrag lautete, ihn unversehrt hierherzubringen.
    – Richtig. Und diesen Auftrag habe ich missachtet. Und meine Erklärung dafür lautet: Weil ich ein Recht darauf hatte. Meiner Ansicht nach gibt es hier nichts weiter zu besprechen. Die einzige offene Frage ist, wie Sie mich bestrafen werden, da ich Ihren Auftrag nicht befolgt habe.
    Ich öffne die Augen.
    Nein, falsch.
    Ich öffne ein Auge .
    Da es von dem Blut verklebt ist, das aus meiner anderen Augenhöhle geflossen ist, hilft mir das nicht viel weiter. Dunkelheit, aufgehellt von einem kleinen Lichtfleck, der wiederum von zwei dunklen

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