Bis Zum Letzten Tropfen
Ihnen das die Buschtrommeln geflüstert, Pitt?
– Nein, das hat mir ein Jahr hier im Exil geflüstert.
Er betrachtet ein Graffiti auf der Rückseite einer Betonvase, die zu Dekorationszwecken am Rand des Daches angebracht ist.
– Ein Jahr.
Er wendet sich mir zu.
– Ein Jahr in der Bronx.
Er mustert mich der Länge nach.
– Und dafür relativ unbeschadet, wenn man von den letzten Stunden absieht.
Er marschiert weiter, umrundet eine Senke in der Dachpappe, in der sich im Schatten eines Baums Regenwasser gesammelt hat. Die Pfütze ist voll mit grünem Schlamm.
– Sie haben immer die Belastbarkeit bewiesen, von der ich vorhin gesprochen habe. Eine Zeit lang habe ich an Ihnen gezweifelt. Ich dachte, Ihre Sentimentalität würde die Oberhand gewinnen. Ich hielt Sie für unbesonnen und verantwortungslos. Doch ich habe mich geirrt. Ihre naturgegebene Skrupellosigkeit hat Ihnen gute Dienste geleistet. Ich kann mir vorstellen, dass sie sehr nützlich war, um in dieser Gegend zu überleben.
Ich denke an das, was ich gelernt habe, als ich in der Bronx aufwuchs. Wer mir diese Skrupellosigkeit eingebläut hat. Ob Predo weiß, dass dies hier meine eigentliche Heimat ist? Aber selbst wenn er es wüsste, würde das etwas ändern?
Er sieht mich an.
– Kein Kommentar?
Genau. Kein Kommentar.
Er zuckt mit den Schultern und bleibt an der südwestlichen Ecke des Gebäudes stehen. Dort ist eine Lücke zwischen den Bäumen, und man kann in den Himmel und auf die Lichter und Hochhäuser jenseits des Flusses blicken.
– Vielleicht können Sie sich hierzu einen Kommentar abringen?
Ich betrachte die Stadt und habe immer noch nichts zu sagen.
Er legt eine Hand auf den zersplitterten Fuß einer Betonvase.
– Wir wollen nicht, dass sie stirbt, Pitt.
Sein Blick ruht auf mir.
– Der Abschaum, mit dem sie sich umgibt, würde die Straßen überschwemmen. In ihrer Überheblichkeit hat sie sich mitten in unserem Gebiet angesiedelt. Ein ganzes Mietshaus mitten auf Koalitionsterritorium. Sie beherbergt sie, sorgt für sie. Ein Wohlfahrtsstaat. Wenn sie stirbt, würden sich ihre Gefolgsleute in alle Winde zerstreuen. Wir könnten sie nicht aufhalten. Ein direkter Anschlag auf das Gebäude würde zu viel Aufsehen erregen. Unser Einfluss reicht zwar bis in gewisse Zirkel der nichtinfizierten Welt, doch nicht so weit, als dass wir eine paramilitärische Operation mitten auf der Upper East Side vertuschen könnten.
Er umklammert den bröckligen Zementfuß.
– So verlockend der Gedanke an einen Angriff auch sein mag, er ist indiskutabel. Wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen. Wir kennen ihr Ziel.
Er schaut zum Himmel auf.
– Das Heilmittel.
Er schüttelt den Kopf.
– Aber wir müssen wissen, wie sie vorgeht. Wenn sie auf eigene Faust und im Geheimen arbeitet, die Biotech-Labore ihres Vaters nutzt und nicht auf externe Forschungspartner zurückgreift, so haben wir etwas Zeit und Spielraum gewonnen. Doch wenn sie vorhat, damit an die Öffentlichkeit zu treten, beispielsweise indem sie Beweise dafür sammelt, dass es sich bei dem Vyrus um eine Art Krankheit handelt, falls sie also tatsächlich durch eine großangelegte Pressekonferenz oder Ähnliches auf ein Gesundheitsrisiko hinweisen will, müssen wir postwendend handeln.
Ich grunze.
Er hebt die Augenbrauen.
– Ja?
Ich sehe noch immer zur Stadt hinüber. Die Fassade des Empire State Building wird von roten, weißen und blauen Scheinwerfern angestrahlt.
– Nichts. Ich mache mir nur jedesmal eine geistige Notiz, wenn jemand Worte benutzt, die ich bisher nur in Büchern gelesen habe. Postwendend.
– Nun, lassen Sie mich Ihren Wortschatz noch erweitern, indem ich einen anderen Begriff ins Spiel bringe: Genozid.
– Ja, das hab ich schon mal gehört.
– Gut. Dann muss ich Ihnen die Bedeutung ja nicht mehr erklären. Sie können die Tragweite ermessen. Genau das wird passieren, wenn dieses Mädchen versucht, das Vyrus zu heilen, als wäre sie Brot für die Welt oder eine andere beliebige Wohlfahrtsorganisation, für die man verwöhnte Models oder Rockstars als Aushängeschilder gewinnen kann.
Ich nähere mich der Balustrade, ohne die Lichter der Stadt aus den Augen zu lassen.
– Vielleicht veranstalten sie ja ein Benefiz-Konzert zu unseren Gunsten.
– Wir könnten höchstens darauf hoffen, dass eine Kapelle traurige Weisen spielt, wenn sie uns in die Duschkabinen treiben.
– Da mögen Sie Recht haben.
– Natürlich. Weshalb auch nicht? Sieht man von
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