Bis Zum Letzten Tropfen
vielleicht . Er ist mit Sicherheit völlig irre.
Das hier ist nichts weiter als ein Kieswerk.
Was habe ich mir nur dabei gedacht? Als ob ein verrückter Jungspund das größte Geheimnis der Koalition kennen würde. Was hätte er hier schon sehen können, das so enorm lebensbedrohlich war?
Dann erinnere ich mich an seine zitternden Mundwinkel. An sein Keuchen, als er versuchte, es mir zu erzählen. Daran, dass er bei dem Gedanken an diesen Ort fast gekotzt hätte.
Tränen und Blut auf seinen Wangen.
Also gut, vielleicht ist hier ja wirklich irgendwas.
Ich schneide mit dem Rasiermesser ein Stück Stoff vom Saum meiner Hose, beiße die Zähne zusammen und richte die drei gebrochenen Finger meiner linken Hand einigermaßen gerade. Dann schiebe ich sie durch den Schlagring und zurre sie mit dem dreckigen, khakifarbenen Stofffetzen ordentlich fest. Schließlich wälze ich mich im Staub, um meiner feuchten Haut und der Hose einen steingrauen Farbton zu verleihen.
Vorsichtig krieche ich ans Licht, Schlagring in der einen Hand, kaltes, scharfes Metall fest in der anderen, drücke mein Gesicht in den Staub am Rand der von schweren Lkws gepflügten Kiesstraße. Als einer der Lastwagen vorbeifährt, packe ich eine herabbaumelnde Kette, ziehe mich daran hoch und kauere auf einem der Benzintanks, während der Lkw die Förderbänder umrundet und in einer Lücke dazwischen anhält.
Staub verklebt meine Nase. Ich rieche nichts außer Dieselabgasen und verbranntem Gummi. Der Lkw fährt weiter in die Schatten unter den Förderbändern. Der Turm aus rostendem grauen Stahl, in den die Förderbänder den Kies transportieren, bebt so stark, dass der Donner die Luft zum Erzittern bringt. Ich bin taub.
Der Lkw bremst scharf, wendet und hält dann auf das Eingangstor zu.
Hier unter dem Turm, außer Reichweite der Halogenscheinwerfer, bilden gelbe Glühlampen in Drahtkästen die einzigen Lichtquellen. Eine Gestalt tritt ins staubige, blasse Licht. Die Hand mit dem Schlagring voran, hechte ich vom Lkw. Meine gebrochene Hand durchzuckt ein gewaltiger Schmerz bis hinauf in den Arm, als der Schlagring gegen das Gesicht des Mannes prallt. Ich lande auf ihm, schlage ihm den Helm und die Ohrenschützer vom Kopf und ramme ihm einen Ellbogen in den Magen. Zum Glück muss ich mir keine Sorgen machen, dass ihn irgendjemand schreien hört.
Ich zerre ihn unter das vibrierende Gerüst eines Förderbands und rieche an ihm.
Kein Vyrus.
Ich brülle etwas in sein Ohr. Er hustet, spuckt Blut und schüttelt den Kopf.
Ich zeige ihm das Rasiermesser, und er schüttelt wieder den Kopf.
Ich schneide ihm das linke Ohr ab und glaube fast, seinen Schrei zu hören.
Dann brülle ich etwas in sein anderes Ohr. Er schluchzt und deutet auf den Stahlturm.
Ich schneide ihm die Kehle durch und trinke sein Blut. Die ersten Schlucke schmecken nach Staub, und ich muss würgen, um den zähen Schlamm runterzukriegen. Danach wird es immer besser.
Ich halte mich nicht damit auf, ihn leerzutrinken. Für so einen Luxus fehlt mir die Zeit.
Seine Leiche lasse ich liegen, dafür ziehe ich mir seine Jacke, die Schutzbrille, die Ohrenschützer und den Helm über. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihn zu töten, aber es schien mir das Schlauste zu sein, sein Blut zu trinken. Damit ich genug Kraft habe für das, was mich dort unten erwartet.
Und es wird nicht angenehm werden.
Es wird noch lauter. Die Maschine über mir verstärkt das Geräusch des mahlenden Gesteins und schickt den Schall direkt in die kleine, leere Kammer, in der ich mich befinde. Vom Boden der Kammer aus windet sich eine Wendeltreppe hinab in einen uralten Schacht, dessen absolute Finsternis nur von gelegentlichen Sicherheitslampen durchbrochen wird.
Ich steige die Treppen hinunter.
Ungefähr fünf Meter unter der Oberfläche wird es etwas leiser. Ich erreiche die erste Lampe, eine Glühbirne in einem Drahtgitter über einer unbeschrifteten Stahltür. Ich rüttle vergebens am Griff.
Irgendwie fühle ich mich beobachtet. Ich blicke auf und erwarte, dass mit Maschinenpistolen bewaffnete Koalitionstruppen den Schacht umringt haben, doch – nichts.
Tiefer.
Eine weitere Lampe, eine weitere verschlossene Tür.
Tiefer.
Die Lampe über mir blinkt zweimal auf, dann öffnet sich plötzlich die Tür.
Ich verberge den Schlagring hinter meinem Rücken, klappe das Rasiermesser ein und nicke dem mit Schutzbrille und Ohrenschützern ausgerüsteten Mann zu, der aus der Tür kommt und irgendwas in seine
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