Bis zur letzten Luge
würde Zeit haben, um sich an den Gedanken zu gewöhnen und zu entscheiden, was oder ob sie überhaupt etwas unternehmen und Mrs Gerritsen sehen wollte. Doch Phillip konnte sich nicht vorstellen, ihr das alles zu sagen. Nicht bevor er nicht die ganze Wahrheit kannte.
Er würde also zurückgehen und sich den Rest der Geschichte anhören müssen.
„Phillip?“
Aus seinen Grübeleien gerissen, sah er Belinda an und bemerkte, dass Jake gegangen war.
„Was ist los? Du hast ins Nichts gestarrt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht die Frau in Rot da vorne ist, die deine Aufmerksamkeit gefesselt hat.“
„Woher weißt du das?“
Ihr Lachen klang warmherzig und tief – wie ein Café brûlot in einer verführerischen, betörenden Nacht. „Weil du mitmir hier bist.“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Wie wäre es mit ein bisschen Gesellschaft, um dich von deinen Sorgen abzulenken?“
„Du sitzt doch hier neben mir, oder?“
„Einige Freunde von mir sind gerade gekommen, und wir haben noch Platz am Tisch. Wir könnten etwas von dem Essen, das Jake bestellt hat, mit ihnen teilen.“ Als er nickte, stand sie auf und winkte zwei Paare heran, die in der Nähe der Tür zur Bar warteten. Phillip erhob sich, als sie den Tisch erreichten. Er kannte keinen von ihnen, und ihm wurde bewusst, wie wenig er über das Leben wusste, das Belinda führte, wenn er nicht bei ihr war.
Sie stellten sich einander vor und nahmen Platz. Sam und Vivian waren ein beeindruckendes Pärchen Anfang dreißig. Aus der Unterhaltung ging hervor, dass es einer der seltenen Abende war, an dem sie ausgehen konnten und nicht zu Hause bei ihren beiden Kindern waren. Sam war Direktor an einer JuniorHighschool, und Viv entwarf und nähte Kostüme für die Karnevalsparaden, wenn die Kinder in der Schule waren.
Debby und Jackson waren nicht verheiratet. Debby, die wie ein Teenager aussah, unterrichtete Sechstklässler an der Schule, an der auch Belinda die Kleinsten betreute, und Jackson war in einer Bank angestellt. Sie waren ein ungleiches Paar: Jackson hatte das massige, kräftige Äußere eines Hafenarbeiters am Mississippi, und Debby war so klein und zierlich, dass sie sicherlich weniger als ein Baumwollballen wog. Aber an der Art, wie Jackson Debby nicht von der Seite wich, war abzulesen, wie ernst es ihm mit der Beziehung war.
„Wir haben schon von Ihnen gehört“, sagte Sam. „Belinda hat uns von Ihrer Arbeit erzählt, und ich habe Ihr Interview mit Martin Luther King im letzten Herbst gelesen. Sehr eindrucksvoll.“
Phillip war es gewohnt, zu hören, wie beeindruckendseine Arbeit war. Er war es allerdings nicht gewohnt, zu hören, dass Belinda jemandem von ihm erzählt hatte. Er fragte sich, wie sie auf das Thema gekommen sein mochten und wie genau sie ihre Beziehung beschrieben hatte.
Das Essen wurde mit einer Runde Drinks für alle zusammen serviert, und die Gespräche waren so gut wie die Langusten. Phillip war eigentlich nicht in der Stimmung für Gesellschaft gewesen. Er hatte die meisten Ortsansässigen kennengelernt, die sich für die Bürgerrechtsbewegung einsetzten, und auch einige Leute, die strikt dagegen waren. Doch er hatte nie das Bedürfnis verspürt, in New Orleans Freunde zu finden oder sich am alltäglichen Leben zu beteiligen. Während der Abend voranschritt, merkte er jedoch, dass er sich für die beiden Paare interessierte. Ein solches Gefühl von Freundschaft, das so unvermittelt auftrat, hatte er nur selten erlebt.
Belinda mit Menschen zu beobachten, die sie offensichtlich mochten, eröffnete ihm eine neue Perspektive. Durch ihre Aufmerksamkeit blühte Belinda auf wie eine Blume, die sich der Sonne entgegenreckte. Ihm war nicht einmal aufgefallen, wie ruhig sie heute Abend gewesen war, bis sie nicht mehr ruhig war. Während er sie beobachtete, wurde ihm klar, wie wichtig ihm ihr Verständnis geworden war, wie sehr er davon abhing und wie wenig Verständnis sie im Gegenzug von ihm forderte. Sie war eine vielschichtige Frau, aber ihre Vielschichtigkeit war auch Teil ihres Charmes. Er könnte vermutlich ewig mit ihr zusammenleben, hundert Jahre lang in ihren Geist und ihre Seele eintauchen und würde noch immer unerforschte Gründe finden.
Nickys Band spielte fast eine Stunde, ehe sie auftauchte. Der Club, der immer gut besucht war, war heute Abend noch voller, als Phillip es je gesehen hatte. Bis Mardi Gras dauerte es noch einige Wochen, doch die Karnevalssaison war bereits in vollem Gange. Als Nicky die
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