Bis zur letzten Luge
dass er es ernst meinte und sich selbst dafür verachtete. Sie sah ihm an, wie er versucht hatte, sich selbst zu schützen, und dass dieser Versuch misslungen war. Sie sah ihm die letzten zehn Jahre an,die wie die Hölle gewesen waren. Das Schrecklichste daran war jedoch, dass sie nicht erkennen konnte, ob er diese Hölle durchlebt hatte oder ob es ihre eigene Vergangenheit war, die sich in seinem Blick spiegelte. „Nein …“
Er ließ die Hand sinken. „Unsere Lebenswege haben uns an diesen Punkt geführt. Wenn du stark genug bist, um das Schicksal herauszufordern, dann lauf weg.“
Sie konnte nicht weglaufen. Voller Verzweiflung stellte sie fest, dass sie sich überhaupt nicht rühren konnte.
Mit beiden Händen umschloss er ihr Gesicht. Seine suchenden Lippen fühlten sich warm an. Als er ihre Tränen fortküsste, wusste sie, dass er sie zu nichts zwingen würde. Sie würde nicht wegrennen; sie würde sich nicht unterwerfen. Sie würde einwilligen und so glücklich sein, als hätten die vergangenen zehn Jahre und der schreckliche Verrat sie nie voneinander getrennt.
Sein Geschmack, sein Duft, das Gefühl seiner Haut – alles kam ihr unglaublich vertraut vor. Er vergrub seine Finger in ihrem Haar – nicht um sie zu besitzen oder zu bestrafen, sondern um das Gefühl auszukosten. Sie konnte nicht länger dagegen ankämpfen; sie fand nicht mehr die Kraft, die Stimme der Vernunft zu beschwören. Es zählte nur noch das, was sie empfand. Seine Lippen auf ihren. Seine Finger, die die Knöpfe an ihrem Kleid öffneten. Seine Hände auf ihrer Haut. Das Rasen ihres eigenen Herzens.
Die vergangenen Jahre waren wie ausgelöscht. Mit einem Mal war sie wieder das junge Mädchen, das in den Armen seines Geliebten lag. Rafe hatte ihr alles beigebracht, was sie über die Liebe wusste, und sie hatte es nie vergessen. Alles, was sich seither ereignet hatte, kam ihr plötzlich wie eine Sünde an der Liebe vor, und sein Körper stellte nun ihre Rettung dar. Es lag keine Gewalt in seinen Berührungen, keine Bestrafung in seinen Liebkosungen. Er nahm und gab Zärtlichkeit, bis sie ganz davon erfüllt war.
„Das hier wird dein Leben verändern“, flüsterte er ihr zu. Sie erinnerte sich an ihre gemeinsame Nacht auf der Dowager und daran, was diese Erfahrung in ihr ausgelöst hatte. „Oh Gott, das hoffe ich.“ Und es stimmte. Sie wollte nichts so sehr wie eine Veränderung. Sie wollte wieder die Frau sein, die an die Liebe geglaubt hatte. Sie wollte die Lügen, die Täuschungen, die Geheimnisse der letzten zehn Jahre vergessen. Sie wollte ihn. Sie wollte ein neues Leben.
Sein Körper war so warm. Vom Golf wehte eine Brise herüber, die sich auf ihrer nackten Haut kühl anfühlte. Er führte sie zu einem geschützten Platz neben der Düne. Der Sand kam ihr so weich wie Wolken vor, als sie sich darauf niederließ. Mit heiserer Stimme sagte er ihr, dass er sie liebe. Sie wusste, dass es die Wahrheit war. Und sie wusste auch, dass er sich für diese Worte hasste, weil er dadurch eine Schwäche eingestanden hatte.
Es gab nichts, was sie darauf erwidern konnte. Ihr Körper wärmte sich durch seinen auf, als wäre er all die Jahre eingefroren gewesen. Als er in sie eindrang, wurde ihr eines bewusst: Sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben, und das würde sie auch nie. Sie waren dazu verdammt, einander zu lieben.
Sie waren verdammt.
„Sieh mich an! Ich will, dass du weißt, wer ich bin.“
Als sie den Gipfel ihrer Leidenschaft erreichten, öffnete sie die Augen und betrachtete ihn. Sie wusste genau, wer er war. Sie sah seine inneren Qualen, seine inneren Kämpfe, sah den Jungen und den Mann. Den Mann, der sie auf ewig in ihren Träumen verfolgen würde. „Ich weiß es.“ Sie schlang ihre Arme und Beine um ihn. Sie wollte ihn für immer in sich tragen, wollte keine Sekunde ihres Zusammenseins missen. „Ich weiß es!“
Als er von der Lust mitgerissen wurde, fand auch sie die süße Erlösung.
Danach lagen sie nebeneinander, ohne sich zu berühren.
Schatten fielen zwischen sie. Momente, die hinter ihnen lagen, zogen ebenso an ihrem inneren Auge vorbei wie die, die sie noch erwarteten. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wusste nicht, für welche dieser Momente sie sie zuerst vergießen sollte.
„Erzählst du mir von Nicolette?“, bat sie ihn schließlich. „Oder willst du mich noch immer bestrafen?“
Er wandte sich ihr zu. „Nicolette kommt ganz nach ihrer Mutter. Ich konnte mich irgendwann nicht mehr dagegen
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