Biss der Wölfin: Roman
schon näher«, sagte Clay, als wir unser neues Hotelzimmer betraten.
Ich warf meinen Koffer in die Ecke und steuerte auf die Karte vom Zimmerservice zu. Clay erwischte sie vor mir.
»Entschuldige«, sagte ich. »Du solltest doch eigentlich Dennis’ Aufzeichnungen lesen, weißt du noch? Ich glaube, das war ein Befehl.«
»Mein Magen nimmt sein Vetorecht wahr. Erst das Essen, dann die Arbeit.«
Eine Stunde später saß Clay, mittlerweile mit vollem Magen, ans Kopfende des Bettes gelehnt, las Dennis’ Aufzeichnungen laut vor und fügte zwischendurch informative Kommentare hinzu. Ich lag zusammengerollt neben ihm auf dem Kissen und hörte mit geschlossenen Augen zu.
Dennis’ Notizen bezogen sich größtenteils auf Formwandlermythen, die Clay bereits kannte. Zum Beispiel auf den malaysischen Bajang, ein zwergenhaftes Menschenwesen, das sich in einen Iltis verwandeln kann. Oder die griechische Striga, eine Hexe, die zu einer Kreischeule wird. Oder die westafrikanischen Leopardenmenschen, Nachkommen von Menschen und Leopardengöttern, die Katzengestalt annehmen können. In Bali findet man die Leyak, Schwarzmagier, die nachts zu Tieren werden. Die Schotten haben ihre Selkies, Robben, die zu Menschen werden können. Die Brasilianer haben Encantados, Menschen, die sich wiederum in Tiere verwandeln können, vor allem Delphine. Und das ist nur der Anfang.
Die beliebteste Form des Gestaltwandlers allerdings ist die des Hundewesens. Vielleicht liegt hier der Beweis, dass die Menschen ein Stück weit über uns Bescheid wissen. Andererseits sind Hundewesen auch diejenigen Tiere, die ihnen am vertrautesten sind, vom Begleithund bis zum räuberischen Wolf. Sie arbeiten an der Seite des Menschen, sie leben mit dem Menschen zusammen und sie haben seit Jahrhunderten mit ihm konkurriert, um Nahrung ebenso wie um Territorium. Ist es überraschend, dass die Menschen bei den Tiergestalten ihrer Träume und Alpträume zuallererst an den Hund, den Fuchs, den Schakal, den Wolf denken?
In fast jeder Kultur, die Hundewesen kennt, findet man Geschichten von Zwischenwesen oder Gestaltwechslern. Die Flamen haben den monströsen, hundeähnlichen, schwarzen Kludde, die Japaner den Marderhund-Gestaltwechsler Tanuki und das Fuchswesen Kitsune, in Äthiopien gibt es den Wolfshund Crocotta, und die nordamerikanischen Ureinwohner haben ihre Gestaltwandler, die zu Kojoten und Wölfen werden.
Clay kannte sie alle, aber während er las, erfüllte er jeden Aspekt der altbekannten Mythen mit der Erregung und Leidenschaft einer neuen Entdeckung. Auch das war ein Teil von Clay. Der Vater, der Liebhaber, der Gesetzeshüter und der Professor. Vier Seiten, die sich zu einem Ganzen zusammenfügten – einfach und komplex zugleich, faszinierend und zum Rasendwerden.
Ich stemmte mich auf einem Ellbogen hoch und beugte mich vor, um ihn anzusehen; mein Haar streifte die Blätter, die er in der Hand hielt.
»Ich liebe dich«, sagte ich.
Er wischte mein Haar fort. »Und deswegen unterbrichst du meine Vorlesung? Erzähl mir doch irgendetwas, das ich noch nicht weiß.«
»Ich hasse dich.«
»Auch längst bekannt. Hält die Dinge interessant. Und wo war ich jetzt?«
»Bei einer selbstgefälligen Erörterung irgendwelcher esoterischen Details der Gestaltwandlermythen.«
»Das tue ich seit einer Stunde. Die Frage war, welches esoterische Detail habe ich gerade erörtert?«
Ich hielt ihm die Aufzeichnungen unter die Nase.
»Ah, Tlahuelpuchti. Im Grunde genommen eher ein Vampirmythos als ein Gestaltwandler …«
»Ganz ähnlich wie der Nagual«, sagte ich, »allerdings mit Unterschieden sowohl in der Bandbreite der möglichen Transformationen als auch in der Übertragung der Kräfte. Ein Nagual verwandelt sich in eine erkennbare Tiergestalt, und man nimmt von ihm an, dass er diese Fähigkeit erlernt, während der Fluch des Tlahuelpuchti erblich ist und das verfluchte Wesen eine Tierform annimmt, oft die Gestalt eines Vogels, etwa eines Geiers oder die jener ganz zu Unrecht vernachlässigten Horrorfilm-Option, des gefürchteten Wertruthahns.«
»Wenn du so gut Bescheid weißt, willst du die Vorlesung übernehmen?«
»Himmel hilf. Das Pult gehört Ihnen, Dr. Danvers.«
Er legte einen Arm um mich, zog mich dicht an seine Seite und redete weiter.
Wir verfolgten, wie Joey zu seinem Auto ging, einem Babymercedes, von dem ich mir sicher bin, dass er nie über die Grenzen des Stadtgebiets hinausgekommen war. Er hielt den Kopf gesenkt und runzelte die Stirn,
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