Biss sagt mehr als tausend Worte
nicht gesehen?«, fragte Cavuto.
»Niemand hat ihn gesehen. Und zu fast allen Kleidern könnte ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Aber allein die Tatsache, dass überhaupt Sachen abgegeben werden, bedeutet, dass es da draußen reichlich davon gibt. Obdachlose besitzen kaum etwas, aber sie nehmen auch nichts mit, was sie nicht tragen können. Das wiederum bedeutet, dass sie diese Sachen hier nicht mehr mitschleppen konnten. Jeder da drinnen im Speisesaal hat einen Freund verloren.«
Rivera legte die Jacke weg und nahm eine Hose, nicht zerrissen, aber voller Staub und Blut. »Sie sagten, Sie könnten Verbindungen zwischen dieser Kleidung und Personen herstellen, die Sie kennen.«
»Ja, genau das habe ich dem Uniformierten heute früh auch schon gesagt. Ich kenne diese Leute, Alphonse, und sie sind plötzlich verschwunden.«
Rivera lächelte in sich hinein, weil der Priester ihn beim Vornamen nannte. Pater Jaime war zwanzig Jahre jünger als Rivera, aber dennoch redete er manchmal mit ihm wie mit einem kleinen Jungen. Wahrscheinlich steigt es einem zu Kopf, wenn alle »Vater« zu dir sagen.
»Abgesehen davon, dass sie allesamt obdachlos waren… hatten diese Leute irgendwelche Gemeinsamkeiten? Ich meine, waren sie vielleicht krank?«
»Krank? Alle, die auf der Straße leben, haben irgendwas.«
»Ich meine, sterbenskrank. Wissen Sie etwas von einer Krankheit? Krebs? Die Seuche?« Als der alte Vampir noch auf der Jagd gewesen war, hatte sich herausgestellt, dass so gut wie alle Opfer todkrank gewesen waren und sowieso demnächst gestorben wären.
»Nein, es gibt nur diese eine Verbindung, dass sie alle auf der Straße gelebt haben und jetzt verschwunden sind.«
Cavuto verzog das Gesicht und wandte sich ab. Er fing an, zwischen den Kleidern herumzuwühlen, und warf sie durch die Gegend, als suchte er nach einer verschollenen Socke.
»Hören Sie, Pater, würden Sie uns eine Liste der Personen zusammenstellen, denen diese Sachen gehören? Und alles anmerken, was Ihnen zu den Leuten einfällt? Dann könnten
wir anfangen, die Krankenhäuser und Gefängnisse abzusuchen.«
»Ich kenne nur die Spitznamen.«
»Das macht nichts. So gut Sie können. Alles, woran Sie sich erinnern.« Rivera reichte ihm seine Karte. »Seien Sie so nett und rufen Sie mich an, falls sich irgendwas ergibt. Sofern nicht gerade akut etwas im Argen ist, würde die Einbindung der Uniformierten unsere Ermittlungen nur erschweren.«
»Gut möglich«, sagte Pater Jaime und steckte die Karte ein. »Was glauben Sie, was los ist?«
Rivera sah seinen Partner an, doch dieser blickte nicht von dem staubigen Paar Schuhe auf, das er gerade näher untersuchte.
»Bestimmt gibt es eine Erklärung. Ich habe zwar nichts von einer Umsiedlung der Obdachlosen gehört, aber so was ist schon vorgekommen. Wir erfahren nicht immer alles.«
Pater Jaime sah Rivera mit diesen Priesteraugen an, diesem missbilligenden Blick, den sich Rivera immer auf der anderen Seite des Beichtstuhls vorstellte. »Inspektor, wir geben hier zum Frühstück täglich vier- bis fünfhundert Portionen aus.«
»Ich weiß, Pater. Sie leisten Großes.«
»Heute waren es nur hundertzehn Portionen. Mehr Leute, als dort in der Schlange stehen, kommen heute nicht.«
»Wir werden unser Bestes tun, Pater.«
Sie durchquerten den Speisesaal, ohne jemandem ins Gesicht zu sehen. Im Wagen sagte Cavuto: »Diese Klamotten wurden von Krallen zerfetzt.«
»Ich weiß.«
»Sie jagen nicht nur die Kranken.«
»Nein«, sagte Rivera, »sie nehmen jeden, den sie kriegen können. Wahrscheinlich jeden, den sie allein antreffen.«
»Ein paar von den Leuten in der Cafeteria haben was beobachtet. Es war ihnen anzusehen. Wir sollten wiederkommen und mit ihnen sprechen, wenn der Priester und seine Gehilfen nicht in der Nähe sind.«
»Das ist doch eigentlich nicht nötig, oder?« Rivera strich Zahlen auf seinem Notizblock durch.
»Die gehen bestimmt zur Presse«, sagte Cavuto und scherte hinter einem Cable Car auf die Powell Street ein. Seufzend fügte er sich ein paar Blocks weit der Geschwindigkeit des 19. Jahrhunderts, während sie den Nob Hill erklommen.
»Na ja, anfangs ist es nur irgendein Quatsch, den Penner so erzählen, aber dann werden irgendwem die blutigen Klamotten auffallen, und alles kommt raus.« Rivera fügte eine weitere Zahl hinzu, dann schrieb er schwungvoll irgendetwas auf.
»Es muss nicht sein, dass es auf uns zurückfällt«, sagte Cavuto hoffnungsfroh. »Ich meine, es ist ja nicht
Weitere Kostenlose Bücher