Bisswunden
Wirklichkeit ist es nicht so. Sie fühlen sich während ihrer manischen Phasen so gut, dass sie bereit sind, die Tiefs zu ertragen, als Preis für ihre Euphorie. Selbst wenn diese Tiefs so schlimm sind, dass die betreffende Person im Augenblick ihres Zusammenbruchs ernsthaft suizidgefährdet ist.«
»Ich will nicht widersprechen. Was ist aus deinem Freund geworden?«
»Er hat das Studium abgebrochen.«
»Genau wie ich. Willst du darauf hinaus?«
»Du hast nicht abgebrochen, du wurdest mehr oder weniger rausgeworfen, weil du jemand anderen dazu gebracht hast, einen Selbstmordversuch zu unternehmen.«
»Ja.«
Michaels Gesicht zeigt keinerlei Urteil. »Ich glaube nicht, dass irgendetwas von alledem deine Schuld war, Cat. Ich weiß nicht allzu viel über die Zusammenhänge zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und psychischen Problemen des Erwachsenseins, weil ich nur Kinder behandle. Das ist auch der Grund, warum ich nur so wenig über unterdrückte Erinnerungen weiß. Aber ich weiß Bescheid, was Kindesmissbrauch angeht. Ich habe eine Menge davon gesehen, besonders als Kinderarzt in der Notaufnahme.«
Irgendetwas in seinen Augen erinnert mich an die Augen von John Kaiser. Wissen, erfahren durch Schmerz. Weisheit, um die niemals gebeten wurde.
»Das sind noch die einfachen Fälle«, fährt Michael fort. »Die harten sind diejenigen, wo du genau weißt, dass etwas nicht stimmt, wo du aber keine Narben im Genitalbereich vor dir hast oder sonst irgendetwas Offensichtliches. Diese Fälle haben mir die überraschendsten Erkenntnisse über sexuellen Missbrauch bei Kindern gebracht.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass es in der Regel nicht die körperlich schmerzhafte, grauenvolle Angelegenheit ist, die sich die meisten Menschen vorstellen. Es ist keine Vergewaltigung, nicht einmal für sich selbst genommen notwendigerweise eine grauenhafte Erfahrung. Nicht zu Anfang jedenfalls. Wäre es so, wäre sexueller Missbrauch nicht die unsichtbare Epidemie, die er ist. Sex ist etwas Angenehmes, Erfreuliches, selbst für ein Kind. Erwachsene, die Kinder missbrauchen, wissen das. Sie verführen ein Kind stückweise, gehen nach und nach immer einen Schritt weiter. Die Familiendynamik ändert sich auf eine Weise, die zu analysieren Freud Jahre benötigen würde. Zwischen dem Täter und seinem Opfer finden komplexe Machtspiele statt. Junge Mädchen schlüpfen in die Rolle von Ersatzfrauen im Haus, und ihre Schwestern wetteifern um die sexuelle Aufmerksamkeit des Vaters. Väter trainieren Söhne, Frauen auf die gleiche Weise zu benutzen, wie sie es tun. Selbstverständlich gibt es auch den umgekehrten Fall. Ältere Töchter, die ihre jüngeren Geschwister zu beschützen versuchen, indem sie alles in ihrer Macht unternehmen, um den Vater auf sich selbst zu ziehen.«
Ich schließe voller Entsetzen die Augen. »Ich gehe jede Wette ein, dass du dir den Abend anders vorgestellt hast«, sage ich.
Michael spießt ein Stück Steak mit seiner Gabel auf und kaut nachdenklich darauf. »Schon, aber es macht mir nichts aus. Ich war schon immer neugierig, was dich angeht. Warum du dir in der Highschool ausgerechnet die Jungen ausgesucht hast, mit denen du rumgezogen bist. Und später diese wiederholten Affären mit verheirateten Männern. Jetzt fällt es nicht mehr weiter schwer, den Grund zu verstehen, oder?«
»Meine Therapeutin sagt, ich würde mir unerreichbare Männer aussuchen, damit ich mich nicht zu sehr an einen Mann binde. Auf diese Weise kann sich der Verlust nicht wiederholen, den ich bei meinem Vater erlebt habe.«
»Ist es zu spät, um dein Geld zurückzuverlangen?«
Michaels Augen entschuldigen sich wortlos dafür, dass er über etwas so Ernstes einen Scherz gemacht hat. Doch er ist so ehrlich mit seiner Meinung, dass es mir schwer fällt, ihm böse zu sein.
»Ich denke eher, die damit verbundene Heimlichkeit ist die Basis für deine Affären«, sagt er. »Heimlichkeit war ein Teil deiner sexuellen Prägung. Ich denke, du hast den größten Teil deines Erwachsenenlebens damit verbracht, deinen Missbrauch nachzuleben. Du blühst auf, wenn du eine heimliche Beziehung zu einem verbotenen Partner hast, eine Beziehung, die ihrer Natur nach extrem sexuell ist. Habe ich Recht?«
»Bist du sicher, dass du dich nicht auf pädiatrische Psychiatrie spezialisiert hast?«
Er schüttelt den Kopf. »Nachdem man erst einmal von dem Missbrauch weiß, ist es nicht schwierig, die Zusammenhänge zu erkennen. Vielleicht fühlst
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