Bisswunden
verblassen kann, und gehe nach draußen ins Foyer, wo die Treppe in den ersten Stock führt. Ich erinnere mich noch aus der Zeit, als die Hemmeters das Haus bewohnt haben, an den Grundriss. Ich will gerade den Fuß auf die zweite Stufe setzen, als ich hinter mir Michaels Stimme höre. »Ich muss morgen früh in die Praxis«, sagt er und kommt mir ins Foyer hinterher. »Aber ich lasse dir den Wagen da.«
»Und womit fährst du?«
»Ich hab noch ein Motorrad.«
»Ein Motorrad?«
»Überrascht dich das?«
»Na ja …« Ein eigenartiges Lachen kommt über meine Lippen. »Du hast ein Flugzeug und ein Motorrad. Ich schätze, ich bringe das mit einer bestimmten Sorte Mann in Verbindung. Und du erscheinst mir gar nicht wie ein Mann von dieser Sorte.«
»Es bringt eben nichts, wenn man die Leute in Schubladen einordnet.«
»Touché«.
Er macht einen Schritt rückwärts in Richtung Küche. »Ich lege dir die Schlüssel auf den Tresen.«
Ich setze mich erneut in Bewegung, doch etwas nagt an mir, seit Michael es ausgesprochen hat. »Michael …? Was du vorhin gesagt hast, warum Mütter über den Missbrauch in ihrem Heim schweigen …«
»Ja?«
»Du hast gesagt, sie tun es, um ihre Familie zusammenzuhalten, richtig?«
»Ja.«
»Ich schätze, das kommt daher, dass die Väter in den betroffenen Familien die Brötchenverdiener sind. Die Geldquelle für die gesamte Familie.«
Michael nickt. »Ganz genau. Der Täter schafft eine Situation, in der jeder in der Familie von ihm abhängig ist. Und indem die Mutter den Missbrauch leugnet, entgeht sie ihrem schlimmsten Albtraum, nämlich dem von Verlassensein und Armut.«
»Aber das funktioniert in meinem Fall nicht, verstehst du? Bei meiner Familie?«
»Weil dein Vater nicht der Ernährer der Familie war?«
»Richtig. Das war mein Großvater.«
»Was ist mit der Kunst, die dein Vater geschaffen hat?«
»Damit hat er nicht besonders viel Geld verdient, jedenfalls nicht bis kurz vor seinem Tod. Großvater hat immer alles bezahlt. Ich meine, wir haben in seinem Sklavenquartier gewohnt, Herrgott! Es mag grausam klingen, aber wäre mein Vater von einem Bus überfahren worden, hätte unsere Situation sich nicht im Mindesten geändert.«
»Materiell gesprochen«, sagt Michael. »Doch Geld ist nicht alles, Cat. Basierend auf dem, was du mir heute Nacht erzählt hast, würde ich sagen, der frühe Tod deines Vaters hat einen Großteil dazu beigetragen, dein Leben so kaputtzumachen.«
Er hat natürlich Recht.
Michael kommt zum Fuß der Treppe. »Warum sollte deine Mutter also die Augen davor verschließen, dass dein Vater dich missbraucht, wenn sie sich nicht davor fürchten musste, ihn zu verlieren?«
Ich spüre, wie Blut in meine Wangen schießt. »Genau.«
»Vielleicht hat sie es nicht wirklich gewusst … aber denk nach. Dein Vater ist mit einem schweren posttraumatischen Stresssyndrom aus Vietnam zurückgekehrt. Er hat dir selbst gesagt, dass du zu gewissen Zeiten nicht um ihn herum sein durftest. Und heute hast du erfahren, dass er zu einer militärischen Einheit gehört hat, die während des Vietnamkriegs Gräueltaten beging. Wahrscheinlich ist es schwer, die Angst deiner Mutter vor dem einzuschätzen, was dieser Mann ihr anzutun imstandegewesen wäre – oder dir –, falls sie ihn mit dem Missbrauch konfrontiert oder schlimmer noch, dich ihm weggenommen hätte.«
Michaels Logik lässt mich schockiert erstarren. Warum ist es so leicht, die grundlegende Natur von Beziehungen in den Familien anderer Leute zu erkennen, und so unmöglich, dies bei seiner eigenen zu tun? Ich war viele Jahre lang wütend über meine Mutter und kannte den Grund dafür nicht. Heute dachte ich, ich hätte ihn entdeckt. Doch jetzt … nachdem ich eine Vorstellung von dem erhalten habe, wie es gewesen sein muss, mit Daddy zu leben – nicht als blind liebende Tochter, sondern als Ehefrau –, erscheint meine Mutter mir mit einem Mal als eine vollkommen andere Person.
Michael legt seine Hand auf die meine, die über dem Endpfosten des Geländers liegt. »Geh schlafen, Cat. Es wird eine Weile dauern, bis du all das verarbeitet hast.«
Ich habe von den Frauen in meinem Leben unzählige Male ähnliche Ratschläge erhalten. Geh schlafen. Morgen früh sieht alles schon ganz anders aus. Doch aus Michaels Mund klingt es nicht abgedroschen. Er hat keine Illusionen, dass die Dinge morgen besser aussehen könnten. »Danke«, sage ich zu ihm. »Ich meine es ernst.«
»Keine Ursache.« Er zieht
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