Bisswunden
bleiben. Es teilt sich in Millionen kleiner Tropfen und schwebt in die Luft hinauf. Kalter, klammer Schweiß bricht mir aus den Poren wie überfließende Panik. Im heißen Wasser fühlt er sich auf meiner Haut an wie Graupel.
Glauben Sie, dass Sie irgendwann einmal meine Patientin gewesen sein könnten? Das ist eine Frage, die man einem Patienten mit einer dissoziativen Identitätsstörung stellt.
Was wir früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt haben … manchmal ist die Dissoziation während des sexuellen Missbrauchs so gründlich und findet so wiederholt statt, dass das Bewusstsein sich in voneinander getrennte Teile aufspaltet, um sich vor dem Schmerz abzuschotten …
»Nein!«, sage ich laut und balle die Fäuste, bis sich die Fingernägel blutig in meine Handflächen graben. »Das ist unmöglich!«
Ich bin sicher, dass ich Nathan Malik niemals als Patientin aufgesucht habe.
Ich ist jedoch ein problematisches Pronomen in einem Satz, den eine Person mit multipler Persönlichkeitsstörung ausspricht.
Vielleicht habe »Ich« Malik nicht aufgesucht, doch »irgendjemand anders« in meinem Gehirn könnte es durchaus getan haben.
Die Desorientierung, die mich nun überkommt, ist ganz ähnlich dem, was ich nach einem durch Alkoholmissbrauch verursachten Blackout oder beim Herausfallen aus einerhypomanischen Phase erlebt habe. Ich weiß, dass ich irgendwo gewesen bin – auf einer Party, in einer Wohnung, einem Haus –, doch ich bin nicht sicher, was ich dort getan habe. Wie weit es gegangen ist. Und trotz dieser Ähnlichkeit habe ich mich niemals so sehr von mir selbst losgelöst gefühlt, dass ein zweites, von meinem jetzigen Bewusstsein völlig unabhängiges Leben möglich schien.
»Bleib ganz ruhig«, sage ich mit zitternder Stimme zu mir selbst. »Was hat Malik vorher gesagt?«
Wir haben uns über Gruppentherapie unterhalten … Sie sollten nicht verunglimpfen, was Sie niemals erlebt haben, Catherine. Warum sollte er so etwas sagen, wenn ich je Mitglied seiner Gruppe X gewesen bin? Ein Gefühl von Erleichterung durchflutet mich, bevor es sich wieder verflüchtigt. Habe ich Malik vielleicht während einer Einzelsitzung in einem dissoziativen Zustand besucht und es vergessen oder unterdrückt? Ich habe keinerlei Erinnerung an etwas Derartiges, doch ich habe auch keinerlei Erinnerung an den sexuellen Missbrauch meiner Kindheit. Das bedeutet nicht, dass es nicht geschehen ist. Könnte Malik so viel über mich wissen, weil ich es ihm selbst erzählt habe?
Ich stemme mich aus der Wanne und spritze mir kaltes Wasser aus dem Waschbecken ins Gesicht. Als ich einen Blick in den Spiegel werfe und meine blutunterlaufenen Augen bemerke, durchfährt mich ein Schauer, der einen furchtbaren Gedanken ankündigt. An einem Punkt während unseres Telefongesprächs hatte ich das Gefühl, Malik wollte mir sagen, dass seine Patientinnen seine Geliebten wären. Oder Exgeliebten. Ist es möglich, dass er seine alte Lust auf mich während einer Sitzung mit mir gestillt hat, an die ich mich nicht erinnere? Der Schock, den ich empfunden habe, als Maliks Foto aus dem Fax meines Großvaters kam, ist mir noch immer gegenwärtig. Ich war fest überzeugt, dass ich dieses Gesicht zum ersten Mal seit zehn Jahren gesehen hatte. Doch wie viel ist meine sichere Überzeugung wert? Wenn man der Vorstellung, dass man sichan einen Teil seiner Vergangenheit nicht erinnern kann, erst einmal die Tür geöffnet hat, ist alles möglich. Und für jemanden, der schon früher häufig mit Blackouts und manischen Phasen zu tun hatte, ist der Sprung nicht gerade groß.
Hör auf nachzudenken, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Die Stimme meines Selbsterhaltungstriebs. Zu viel Wahrheit auf einmal könnte dich umbringen …
Ich packe ein großes Handtuch vom Aufhänger an der Tür, wickele mich hinein, steige ins Bett und ziehe mir die Steppdecke bis unters Kinn. Das Licht brennt noch, und ich habe nicht vor, es noch auszuschalten. Ich stelle mein Mobiltelefon auf Vibrationsalarm, schließe die Augen und bete um Schlaf.
In jeder beliebigen anderen Nacht hätte ich wahrscheinlich geglaubt, dass ich einen Drink oder ein Valium brauche, um die rasenden Gedanken in meinem Kopf zu bändigen, doch heute Nacht reicht mir die bloße Erschöpfung. Während ich langsam wegdämmere, erscheint Nathan Maliks Gesicht vor meinem geistigen Auge. Sein Blick ist kalt und durchdringend. Dann weicht es dem Gesicht von Michael Wells. Michaels Augen sind warm und
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