Bisswunden
freundlich, und sein Blick ist offen. Irgendetwas an ihm erinnert mich an meinen Vater, doch ich vermag es nicht zu benennen. Es sind weder die Augen noch die Statur. Es ist seine Art. Sein Zögern, ein Urteil zu fällen vielleicht … Was immer es sein mag, ich fühle mich zu ihm hingezogen.
Warum habe ich Michael nicht erzählt, dass ich schwanger bin? Es war das Einzige, das ich zurückgehalten habe. Ist der Grund vielleicht, dass ich – tief im Innern – diejenige bin, die darauf hofft, dass unsere Beziehung sich vertieft? Habe ich vielleicht Angst, dass Michael aus meinem Leben verschwinden könnte wie all die anderen Männer, die von meinem Körper und meiner Leidenschaft angezogen werden, sobald er davon erfährt?
Stopp!, ruft die Stimme in meinem Kopf. Stopp! Stopp! Stopp!
Ich habe einen Trick, wie ich mit destruktiven Gedanken umgehe.
Ich ziehe mich an einen anderen Ort zurück, einen Ort des Friedens. Für mich ist der Ozean dieser Ort. Ich bin frei, wenn ich entlang einer vielfarbenen Wand aus Korallen nach unten sinke, einer senkrechten Mauer, die sich durch karibisches Blau bis hinunter in tiefes Schwarz erstreckt. Hier gibt es kein Geräusch außer dem Schlagen meines Herzens. Mein Körper durchgleitet Wärme, bis die Wärme kalt wird und meine Wahrnehmung über den engen Käfig meines Schädels nach draußen dringt, um alles aufzunehmen, was ich sehen kann. Ein Rausch überkommt mich, der Rausch der Tiefe.
Jetzt tauche ich an dieser Wand entlang, hinunter durch die letzte schimmernde Schicht aus Bewusstsein in den Schlaf. Ich wünschte, es wäre nur Dunkelheit, die mich dort unten erwartet, aber das ist es nie allein. Träume liegen auf der Lauer, und das war schon immer so. Die Unterwelt, wo ich immer eine Fremde bin – oder ein Flüchtling oder ein Soldat, erstarrt mitten in der Schlacht. Angst und Verwirrung sind meine einzigen Begleiter hier unten, und unsere gemeinsamen Reisen sind stets von längerer Dauer.
Als ich ein Teenager war, habe ich gehört, dass Träume, die subjektiv Stunden zu dauern scheinen, sich in einer Zeitspanne von fünf oder sechs Sekunden ereignen. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Die meisten Träume dauern zehn bis fünfzehn Minuten, bevor sie in den Tiefen des rem-Schlafs in andere übergehen. An einige Träume können wir uns erinnern, an andere nicht. Die meisten meiner Träume – obwohl sie oft lebendiger sind als mein waches Leben – hinterlassen lediglich bruchstückhafte Bilder, wie herausgerissene Seiten aus einem Fotoalbum.
Heute Nacht wird es anders.
Heute Nacht bin ich zurück in dem rostigen orangefarbenen Pick-up meines Großvaters. Auf der Insel. Mein Großvater sitzt hinter dem Steuer. Wir rollen den langen Hang desHügels hinauf. Auf der anderen Seite liegt der Teich, wo die Kühe saufen. Ihre Fladen überziehen das Weideland wie getrocknete Schlammklumpen. Die Haare meines Großvaters sind schwarz, nicht silbern. Im Truck stinkt es furchtbar. Nach altem Motoröl, Kautabak, Schimmel und anderen Dingen, die ich nicht identifizieren kann.
Es wird Regen geben. Der Himmel ist bleiern, die Luft steht. Wir rollen stetig den flachen Hang hinauf in Richtung des Kamms. Angst hat meine Kehle verschnürt, doch Großvaters Gesicht ist gelassen. Er weiß nicht, was auf der anderen Seite des Hügels wartet. Ich weiß es ebenfalls nicht, aber ich weiß, dass es schlimm ist. Ich habe diesen Traum so oft geträumt, dass ich weiß, dass ich träume. Jedes Mal kommen wir dem Kamm ein wenig näher, doch wir erreichen ihn niemals ganz. Jetzt sind wir allerdings schon ganz nah … ich weiß, dass ich bald aufwachen werde.
Doch ich wache nicht auf. Diesmal nicht.
Diesmal schaltet Großvater einen Gang zurück und tritt auf das Gaspedal, und der alte Pick-up zockelt über den Kamm hinweg. Die Kühe erwarten uns; sie starren uns in tumber Gleichgültigkeit an. Hinter den Kühen liegt der Teich, schiefergrau und glatt wie ein Spiegel.
Ich balle die Hände so fest zu Fäusten, dass meine Handflächen zu bluten anfangen.
Da ist etwas im Teich.
Ein Mann.
Er schwimmt mit dem Gesicht nach unten im Wasser, die Arme ausgebreitet wie Jesus am Kreuz. Er hat langes Haar wie Jesus. Ich will schreien, doch Großvater scheint den Mann nicht zu sehen. Stumm vor Angst zeige ich mit dem Finger auf die Stelle. Großvater blinzelt und schüttelt den Kopf. »Verdammter Regen«, sagt er. Sie können nicht arbeiten auf der Insel, wenn es regnet.
Während der Pick-up nach
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