Bisswunden
unten zum Teich rollt, deutet Großvater nach rechts. Sein Preisbulle ist auf eine Kuhgestiegen und bewegt sich ruckhaft vor und zurück. Während Großvater die sich paarenden Tiere beobachtet, wende ich den Blick und sehe zum Teich zurück.
Der Mann schwimmt nicht mehr dort. Er erhebt sich auf die Beine. Meine Handflächen jucken vor Anspannung. Der Mann steht nicht im Teich, sondern auf dem Wasser. Er steht auf der spiegelglatten Oberfläche wie auf einer Eisbahn, obwohl es draußen sicher fünfunddreißig Grad sind. Mein Herz hämmert so wild, dass ich es über den Lärm des Trucks hinweg zu hören meine.
Der Mann auf dem Teich ist mein Vater.
Ich erkenne seine Jeans, sein Arbeitshemd und die tief liegenden braunen Augen unter den langen Haaren. Während ich ihn anstarre, setzt er sich in Bewegung, kommt mit ausgebreiteten Armen über das Wasser hinweg auf mich zu. Er will mir etwas zeigen. Großvater ist fasziniert von seinem Preisbullen, der immer noch auf der Kuh hängt. Ich zupfe an seinem Hemdsärmel, doch er wendet den Blick nicht ab. Daddy kommt über das Wasser herbei wie Jesus in der Bibel, und Großvater sieht nicht mal hin!
»Daddy!« , rufe ich.
Luke Ferry nickt mir zu, doch er schweigt. Als er sich dem Ufer des Teichs nähert, fängt er an, sein Hemd aufzuknöpfen. Ich sehe dunkle Haare auf seiner Brust. Er öffnet vier Knöpfe, dann zieht er das Hemd vorn auseinander. Ich will die Augen schließen, doch ich kann nicht. Auf der rechten Seite seiner Brust ist ein Loch, wo die Kugel ihn getroffen hat. Es gibt noch mehr Narben – den großen, Y-förmigen Schnitt einer Autopsie. Während ich voller Entsetzen auf die Brust meines Vaters starre, steckt Daddy zwei Finger in das Kugelloch und fängt an, es auseinander zu reißen. Er will, dass ich hinsehe, doch ich kann nicht. Ich schlage beide Hände vor die Augen, dann spähe ich zwischen den Fingern hindurch. Irgendetwas fließt aus der Wunde wie Blut, doch es ist kein Blut. Es ist grau. Das ist alles, was ich weiß, und es ist alles, was ich wissen will.
»Sieh her, Kitty Cat« , fordert er mich auf. »Ich möchte, dass du hersiehst.«
Ich kann nicht.
Als er erneut meinen Namen ruft, schließe ich die Augen und schreie.
37
W ach auf! Ich bin es, Michael! Du träumst!«
Michael Wells schüttelt mich an den Schultern. In seinen Augen steht Angst.
»Cat! Es ist nur ein Albtraum!«
Ich nicke, als würde ich verstehen, was er sagt, doch vor meinem geistigen Auge sehe ich meinen Vater, der die Finger in das Kugelloch in seiner Wunde steckt und die Haut darüber auseinander zieht …
»Cat!«
Blinzelnd kehre ich in die Realität zurück und packe Michaels Hände. Er trägt ein T-Shirt und eine karierte Pyjamahose. »Alles in Ordnung … du hast Recht. Ich hatte einen Albtraum.«
Er nickt erleichtert; dann steht er auf und blickt auf mich herunter. Das Licht an der Decke leuchtet hell hinter seinem Kopf, doch hinter dem Schlafzimmerfenster herrscht Dunkelheit. »Möchtest du darüber reden?«
Ich schließe die Augen.
»Ist es der gleiche Traum wie immer?«
»Ja. Der alte rostige Pick-up … die Insel … mein Großvater. Allerdings haben wir es diesmal über den Kamm geschafft.«
»Was hast du gesehen?«
Ich schüttele den Kopf. »Es ist zu verrückt. Habe ich laut geschrien?«
Er lächelt. »Du hast geschrien, aber ich habe noch nicht geschlafen. Ich habe über das nachgedacht, was du mir erzählt hast.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich hätte da ein paar Ideen, falls es dich interessiert.«
Ich setze mich auf und lehne mich gegen das Kopfbrett. »Geht es um die Morde in New Orleans oder um meine Geschichte?«
»Deine Geschichte. Ich weiß nichts über die Morde in New Orleans.«
»Tu dir keinen Zwang an. Andere tun es auch nicht.«
»Etwas von dem, was du erzählt hast, ist mir im Kopf geblieben. Diese Sache, dass dein Vater nicht der Ernährer der Familie war. Ich dachte immer, mit seinen Skulpturen hätte er eine Menge verdient. Aber falls das nicht so war, dann hatte in eurem Haushalt dein Großvater diese Position.«
»Absolut.«
»Und nach allem, was du mir über deinen Vater erzählt hast, war er kein Mann, der seine Familie dominiert hat. Er war nicht einmal eine starke Persönlichkeit. Er hat nie versucht, seine Umgebung zu kontrollieren. Ist das richtig?«
»Ja. Daddy wollte nichts weiter als Raum für sich. Er hat mit kaum jemandem geredet außer mit mir. Und Louise natürlich, der Frau auf der Insel.«
»Ich kenne
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