Bisswunden
Enthüllung kommt so überraschend, dass ich nicht weiß, wie ich reagieren soll. Doch es ergibt einen Sinn. Ich rufe mir Maliks Bild ins Gedächtnis, ganz in Schwarz – es fällt nicht schwer, ihn sich als revolutionären Filmemacher vorzustellen.
»Bisher wurde noch nie etwas Derartiges gezeigt«, sagt er ernst. »Es sind die emotional niederschmetterndsten Szenen, die je auf Film gebannt wurden. Wenn dieser Film ausgestrahlt wird, erschüttert er dieses Land in seinen Grundfesten.«
»Was ist darauf zu sehen? Haben Sie sexuellen Missbrauch gefilmt?«
»In gewisser Weise. Der Film zeigt Frauen, die in einer Gruppenumgebung ihren Missbrauch erneut durchleben. Einige fallen auf einen Kindheitszustand zurück. Ihre Erfahrungen sind vernichtend.«
»Ich nehme an, bei diesen Frauen handelt es sich um Patientinnen von Ihnen. Haben diese Frauen ihre Genehmigungen für die Aufzeichnungen gegeben?«
»Ja. Sie gehören zu einer ganz besonderen Gruppe. Einer experimentellen Gruppe, ausschließlich Frauen. Ich habe sie gegründet, nachdem ich jahrelang mit ansehen musste, wie konventionelle Therapien versagt haben. Ich habe Patientinnen ausgewählt, die in einem Stadium waren, wo der Ausbruch unterdrückter Erinnerungen ihr Leben zu zerstören begann. Wo Missbrauch über Generationen hinweg wahrscheinlich schien. Sie waren hoch motiviert. Ich habe sieben Monate mit ihnen zusammen gearbeitet, und wir haben einige bahnbrechende Dinge erreicht.«
»Ist das alles? Frauen in einer Gruppentherapie?«
Malik gibt ein Geräusch von sich, das ich nicht deuten kann. »Sie sollten nicht verunglimpfen, was Sie niemals erlebt haben, Catherine. Aber keine Sorge. Ich habe auch gewisse andere Aktivitäten aufgezeichnet. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Sagen wir einfach, sie sind ihrer Natur nach höchst kontrovers. Explosiv ist wahrscheinlich das bessere Wort.«
Gewisse andere Aktivitäten? »Sprechen Sie etwa von den Morden?«
»Ich kann jetzt nicht mit Ihnen über die Einzelheiten des Films reden.«
Mein Herzschlag geht von Sekunde zu Sekunde schneller. »Haben Sie vor, diesen Film irgendwo zu zeigen?«
»Ja. Aber im Augenblick geht es mir in erster Linie darum, ihn in Sicherheit zu wissen.«
»Vor wem?«
»Eine Menge Menschen möchten, dass dieser Film verschwindet. Mein Film und all meine Aufzeichnungen. Diese Menschen haben Angst vor den Wahrheiten, die ich kenne.«
»Wenn Sie so besorgt sind, warum stellen Sie sich dann nicht dem fbi?«
»Das fbi will mich wegen Mordes ins Gefängnis bringen.«
»Was macht das, wenn Sie unschuldig sind?«
»Es gibt Abstufungen, was die Unschuld angeht.«
»Ich denke, Sie meinen eher die unterschiedlichen Grade von Schuld, Doktor.«
»Das ist eine philosophische Frage, für die wir jetzt keine Zeit haben. Ich werde mich dem fbi stellen, wenn die Zeit gekommen ist. Für den Augenblick jedoch brauche ich Ihre Hilfe. Werden Sie den Film für mich sicher aufbewahren?«
»Hören Sie, ich könnte es nicht einmal dann, wenn ich wollte. Das fbi beschattet mich wahrscheinlich. Möglicherweise wird sogar dieser Anruf belauscht.«
»Vielleicht morgen. Für heute sind wir noch sicher. Haben Sie einen Stift?«
Ich blicke mich suchend im Schlafzimmer um, doch ich entdecke nichts zum Schreiben. Meine Handtasche liegt im Audi, der bei DeSalle Island auf der anderen Seite des Flusses steht. »Nein. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis.«
»Dann merken Sie sich diese Telefonnummer. Fünf-null-vier, acht-null-zwo, neun-neun-vier-eins. Haben Sie?«
Ich wiederhole die Nummer laut und präge sie mir ein.
»Wenn Sie im Anschluss hieran noch einmal mit mir sprechen müssen«, sagt Malik, »hinterlassen Sie eine Nachricht unter dieser Nummer.«
»Ich möchte jetzt mit Ihnen reden, aber nicht über Ihren Film.«
»Dann schnell.«
»Warum haben Sie mir gesagt, dass ich meiner Familie nicht trauen soll?«
»Ich versuche Sie zu beschützen.«
»Wovor?«
Malik seufzt, als wäre er unsicher, ob er die Zeit erübrigen kann, mit mir zu reden. »Familien wie die Ihre bestehen aus drei Sorten von Menschen. Tätern, Opfern und Wegsehern. Jedes Familienmitglied spielt eine dieser drei Rollen. Wenn ein Opfer anfängt, in seiner Vergangenheit zu graben und Anschuldigungen erhebt wegen Missbrauchs, werden die anderen Familienmitglieder paranoid. Ihr Interesse gilt derAufrechterhaltung des Status quo. Das Opfer bedroht diesen Status quo. Die Emotionen, die mit sexuellem Missbrauch einhergehen, führen nicht
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