Bisswunden
Jahrelanges Wegsehen, oder vielleicht sogar jahrelanges Wissen um die Vorgänge, bis sie schließlich durchdreht und ihn erschießt. Dein Großvater hat den Leichnam nach draußen geschafft, um die Haushälterin zu schützen, die seit fünfzig Jahren für seine Familie arbeitet. Sie war außerdem diejenige, die sich in erster Linie um dich gekümmert hat.«
»Du hast Recht. Mein Gott, jetzt begreife ich, warum alle verrückt gespielt haben, als ich von einer forensischen Spurensicherung in meinem alten Zimmer geredet habe. Wer weiß, welche Beweise ein Team von Spezialisten dort finden würde.«
Michael beobachtet mich, als wollte er sonst noch etwas sagen, doch dann schweigt er eine ganze Weile. Schließlich sagt er: »Ich denke, du solltest dir bewusst sein, was du herausfinden könntest, bevor du auf deiner Suche nach der Wahrheit diesen Weg einschlägst. Wie Pearlie bereits gesagt hat … manche Dinge sollte man besser auf sich beruhen lassen.«
»Nein! Ich muss es wissen!«
»Die Wahrheit macht dich frei?«
»Das hat Dr. Malik letzte Nacht gesagt.«
Michael schüttelt den Kopf. »Ich würde Malik nicht als Maßstab für irgendetwas nehmen. Und vergiss nicht – diese letzten Möglichkeiten kommen nur dann in Betracht, wenn dein Vater der Täter war. Wenn es dein Großvater war, dann hat dein Vater ihn erwischt, und Kirkland hat deinen Vater ermordet, um ihn am Reden zu hindern. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«
Plötzlich fühle ich mich, als könnte ich noch einmal wenigstens zehn Stunden schlafen. »Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll.«
»Du musst als Erstes herausfinden, wer dich tatsächlich missbraucht hat. Verzeih mir, wenn ich geschmacklos klinge, aber wenn ich wetten müsste, würde ich auf deinen Großvater setzen.«
Irgendetwas in Michaels Tonfall lässt Zorn in mir aufsteigen. »Das hast du bereits gesagt, okay? Aber mit Amateurmethoden kommen wir nicht weiter. Du sagst, mein Großvater wäre verrückt nach Geld gewesen und hätte dafür unnötige Operationen vorgenommen. Das ist zwar unethisch, aber was hat es mit Kindesmissbrauch zu tun? Louise Butler hat mir erzählt, wie Großvater ein Pferd halb zu Tode geprügelt hat. Dafür hasse ich ihn, aber macht ihn das zu einem Kinderschänder? Hitler liebte Tiere. Mein Vater hat Menschen umgebracht, weißt du?«
»Im Krieg«, sagt Michael leise.
»Sicher. Aber seine Einheit beging Kriegsverbrechen, einschließlich Vergewaltigungen. Und er hatte auf der Insel Sex mit einem fünfzehn oder sechzehn Jahre alten Mädchen. Worauf ich hinauswill … nichts von alledem ist schlüssig. Ich brauche harte Beweise.«
»Was ist mit deinem Schlafzimmer? Dort ist schließlich alles passiert.«
»Es kann mir nicht verraten, was ich wissen will. Angenommen, ich finde Großvaters Blut und das von Daddy. Es bestätigt weder die eine noch die andere Geschichte.«
»Und was, wenn du außer dem Blut noch mehr in deinem Zimmer findest?«
Ich zögere. »Beispielsweise Sperma?«
Michael nickt. »Wäre Sperma nicht ein schlüssiger Beweis?«
»Wenn es uns nach all den Jahren gelingt, brauchbare dna daraus zu isolieren, ja. Aber Sperma ist nicht so unglaublich beständig wie Blut.«
»Möglich wäre es trotzdem. Ist es das gleiche Bett wie das, in dem du als Kind geschlafen hast?«
Eine eigenartige Kälte überkommt mich, als ich an die Unterhaltung mit meiner Mutter denken muss, gleich nach meiner Ankunft in Natchez. »Nein. Mom hat die Matratze weggeworfen, weil Urinflecken darin waren. Sie sagt, ich hätte als Kind oft ins Bett gemacht. Aber daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Enurese«, sinniert Michael. »Das wurde lange Zeit mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht. Manchmal ist es ein Hilfeschrei.« Er setzt sich ans Fußende des Bettes. »Du hast keine konkreten Erinnerungen an Missbrauch?«
Ein hysterisches Lachen kommt über meine Lippen. »Was spielt es für eine Rolle? Dr. Malik vermutet, dass ich an einem dissoziativen Identitätssyndrom leide. Ich denke, Kaiser ist der gleichen Meinung. Wir reden hier von multiplen Persönlichkeiten, Herrgott noch mal. Also weiß ich vielleicht gar nicht, was ich zu wissen glaube. Und die tatsächliche Wahrheit ist in meinem Kopf irgendwo weggesperrt, in einem Raum, den ich nicht betreten kann – jedenfalls nicht als ich selbst.«
Michael schüttelt den Kopf. In seinen Augen steht so etwas wie Trauer. »Fühlst du dich so? Hast du das Gefühl, dass es Dinge in deinem Kopf gibt,
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