Bisswunden
Er war sehr verständnisvoll. Ich wollte ja auch, was er wollte … es waren ganz normale Sachen. Aber ich konnte es nicht. Sobald Luke hinter mir war, bekam ich keine Luft mehr und hatte das Gefühl, als müsste ich auf der Stelle ins Badezimmer.«
»Zum Wasserlassen, meinst du?«
Sie läuft dunkelrot an. »Nein … Aber wenn er es versucht hat, hatte ich furchtbare Schmerzen. Ich will nicht darüber reden, verstehst du? Ich kann nicht. Ich bin nicht sicher, woran ich mich wirklich erinnere und was ich mir einbilde. Aber an eine Sache erinnere ich mich deutlich …« Sie knüllt das Papiertuch zu einer feuchten Kugel zusammen und wischt sich die Augen, doch die frischen Tränen versiegen nicht. »Die Art und Weise, wie Ann mich angesehen hat. Besonders abends, wenn Mom unterwegs war, um Bridge zu spielen. Ann ging regelmäßig zu Daddy ins Büro, um ihn zu beschäftigen. Und ich blieb in meinem Zimmer. Ich wusste, dass sie es hasste, zu Daddy zu gehen. Ich wusste, dass sie Angst vor ihm hatte. Ich hatte ebenfalls Angst vor ihm, tief in mir, obwohl ich es niemals gegenüber irgendjemandem zugegeben hätte. Nicht einmal gegenüber mir selbst. Wie konnte ich Angst haben vor meinem Daddy? Er liebte mich und sorgte für mich. Doch wann immer Ann mich in meinem Zimmer allein zurückließ, um Zeit mit ihm zu verbringen, sah sie mich auf eine Weise an, wie man etwas ansieht, das man zu beschützen versucht.«
Moms Kinn zittert wie das eines kleinen Mädchens. Ich bin nicht sicher, ob sie noch viel mehr aushalten kann. »Und heute …«, schluchzt sie, »heute weiß ich, dass sie ganz genau das gemacht hat. Mich vor ihm beschützt. Sie war nur vierJahre älter als ich, aber … bei Gott, ich ertrage es nicht, daran zu denken!«
Sie bricht über dem Tisch zusammen und schluchzt unkontrolliert. Ich beuge mich über sie und umarme sie, so fest ich kann. »Ich liebe dich, Mom. Ich liebe dich so sehr.«
»Ich weiß nicht, warum … Ann hat wenigstens versucht, mich zu beschützen, aber ich? Ich habe dich nicht beschützt … meine eigenes Baby.«
»Du konntest es nicht«, flüstere ich. »Du konntest doch nicht einmal dich selbst beschützen.«
Sie richtet sich auf und knirscht mit den Zähnen, voller Wut auf sich selbst.
»Mom, du wusstest nicht einmal, was mit dir passiert ist. Jedenfalls nicht bewusst. Ich glaube nicht, dass du vor gestern Nacht etwas wusstest.«
»Aber wie ist das nur möglich?« Ihre Augen flehen mich um eine Antwort an. »Ann wusste es. Warum wusste ich nichts von alledem?«
»Ich glaube, wir alle haben es aus unserem Gedächtnis ausgeschlossen, weil zuzugeben, was er uns angetan hat, gleichbedeutend gewesen wäre damit, uns einzugestehen, dass er uns nie geliebt hat. Dass er sich nicht um unser Wohlergehen gesorgt hat, sondern nur … um sein eigenes. Er hat uns nur benutzt .«
Mom nimmt meine Hand in die ihre und drückt sie, als wollte sie sie zerquetschen. »Was wirst du jetzt tun, Cat?«
»Ich werde dafür sorgen, dass er gesteht, was er getan hat.«
Sie schüttelt den Kopf, und ihre Augen sind erfüllt mit nackter Angst. »Das wird er niemals tun!«
»Ich werde dafür sorgen, dass er keine andere Wahl hat. Ich werde beweisen, was er getan hat. Und dann werde ich dafür sorgen, dass er dafür bestraft wird.«
»Er wird dich umbringen, Cat.«
Ich will widersprechen, doch Mom hat Recht. Großvater hat seine zehn Jahre alte Tochter sterilisiert, sodass er sie nachEinsetzen der Pubertät weiter missbrauchen konnte, ohne Angst vor einer Schwangerschaft haben zu müssen. Er hat Anns zukünftige Kinder für ein paar Jahre des Vergnügens geopfert. Und das war es, was Ann letzten Endes in den Wahnsinn getrieben hat.
Er hat meinen Vater ermordet, um sich zu schützen.
Er würde nicht eine Sekunde zögern, mich aus dem gleichen Grund zu ermorden.
»Hat er jemals irgendetwas in der Art zu dir gesagt?«, frage ich. »Hat er gedroht, dir etwas anzutun?«
»Nein«, sagt Mom fast unhörbar leise. Doch plötzlich reißt sie die Augen weit auf. »Ich bringe deine Mutter um!« , zischt sie. » Ich schicke deine Mutter den Fluss hinunter, und sie wird nie wieder zurückkommen! Genau wie die kleinen Nigger, die verschwunden sind.«
Mom spricht halb flüsternd, wie ein zu Tode verängstigtes Kind, und der Ton ihrer Stimme lässt mich frösteln. Ich drücke sie erneut tröstend an mich. »Ich weiß, dass du Angst vor ihm hast. Aber ich habe keine. Der beste Schutz für uns ist die
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