Bisswunden
abgebrochen. Er suhlt sich im Schmerz, der in meinem Gesicht steht, genau wie er es vor all den Jahren getan haben muss. Die wilde Verzückung in seinen Augen bringt mich in die Gegenwart zurück, und das lässt in mir ein Entsetzen aufsteigen, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
»Stimmt das?«, frage ich ganz leise.
Er zuckt die Schultern. »Es ist jedenfalls etwas, worüber du nachdenken solltest, bevor du Pläne schmiedest, dich mit dem Bezirksstaatanwalt zu unterhalten.«
Ich weiche vor ihm zurück und taste blind nach dem Türknauf.
»Und falls du glaubst, dass Pearlie vor Gericht eine Aussage machen würde, vergiss es. So etwas würde sie niemals tun.«
Meine tastende Hand schließt sich um den Messingknauf. »Warum nicht?«
»Weil sie die Ordnung der Dinge kennt. Du hast sie vielleicht mit deinem Unsinn aufgerührt, doch letzten Endes wird sie nicht ein Wort gegen mich sagen. Pearlie kennt ihren Platz auf dieser Welt, Cat. Genau wie die Nigger auf meiner Insel. Deine Vorfahren haben ihnen ihren Platz gezeigt, und ich habe diese Lektion noch verstärkt.« Er geht zum Sideboard und schenkt sich einen Scotch ein. »Und du, Honey, kennst deinen Platz ebenfalls. Tief in deinem Innern weißt du, wo dein Platz ist.«
Ich löse die zitternde Hand um den Türknauf, hebe sie und richte einen zitternden Zeigefinger auf ihn. »Nein. Du warst vielleicht zu stark für mich, als ich ein Baby war. Das ist vorbei.«
Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck hebt er das Glas, leert den Scotch in einem Zug und wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab.
Ich öffne die Tür und stolpere nach draußen; dann renne ich durch den Korridor in Richtung Küche. Ich weiß nicht, wohin ich will, nur, dass ich wegmuss aus diesem Haus. Sean erwartet mich in New Orleans, doch es fällt mir schwer, mir vorzustellen, auch nur einigermaßen normal zu funktionieren. Selbst die einfachsten zusammenhängenden Gedanken sind im Moment jenseits meiner Fähigkeiten.
Ich krache durch die Küchentür und renne nach draußen in den Rosengarten, in Richtung des Parkplatzes hinter dem Sklavenquartier. Moms Maxima steht dort, wo ich ihn zurückgelassen habe, ein paar Meter neben dem Lincoln und Pearlies Cadillac. Als ich mich den Wagen nähere, höre ich plötzlich ein dumpfes Hämmern. Dann öffnet sich die Beifahrertür von Pearlies Wagen, und Billy Neal steigt aus. Er hat eine Pistole in der Hand. Der Lauf zielt auf eine Stelle zwischen meinen Brüsten.
»Ich warte schon lange auf das hier«, sagt er. »Los, machen wir eine Spazierfahrt.«
»Was ist das für ein Krach?«
Mit gehässigem Grinsen öffnet er den Kofferraumdeckel des Cadillac. »Komm her und sieh selbst.«
Ich gehe zum Heck des Wagens.
Pearlie liegt gefesselt im Kofferraum, den Kopf gegen das Reserverad gedrückt, Hände und Gesicht blutüberströmt. Ihre Perücke ist verschwunden. Auf ihrem schmalen Schädel wächst ein grauer Flaum. Ich habe noch nie so viel Angst in ihren Augen gesehen. Als ich nach unten greifen will, um ihr zu helfen, drückt Billy Neal mir den Lauf der Waffe in die Rippen unter dem linken Arm. Er knallt den Kofferraum zu, dann schiebt er mich unsanft zum Fahrersitz.
»Du fährst«, befiehlt er und stößt mich hinter das Lenkrad.
»Hast du auf sie geschossen?«
»Kümmer dich nicht um dieses alte Miststück. Kümmer dich um das Fahren.«
»Wohin fahren wir?«
»Was glaubst du denn?« Er grinst so breit, dass mir die Wangen schmerzen. »Zur Insel.«
60
M eine letzte Fahrt zur Insel ist gleichermaßen Traum und Albtraum.
Highway 61.
Ein schmales, gewundenes Band aus Asphalt, das dem Verlauf des Mississippi folgt.
Sagenhafter amerikanischer Highway.
Fluchtweg nach Norden für zahllose Massen, die meisten von ihnen Schwarze, die einem Ort zu entkommen trachteten,an dem es für sie keine Hoffnung mehr gab und an dem ihre Herzen nichtsdestotrotz zurückblieben und sich nach der Rückkehr sehnten.
Auch ich habe versucht, diesen Highway als Fluchtweg zu benutzen, nur bin ich nie weggekommen. Einunddreißig Jahre lang bin ich diesen Highway hinauf und hinunter gefahren zwischen zwei entzückenden, verschlafenen Städtchen, doch stets lag die Insel dazwischen, eine Traumwelt, eingehüllt in Nebel und Erinnerungen, die wie eine leere Bühne auf den letzten Aufzug meines Lebens wartete.
Heute wird er stattfinden.
Und mein Schicksalsbote ist Billy Neal.
Es erscheint irgendwie falsch. Ich kannte diesen Mann nie richtig. Diesen schwarzhaarigen,
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