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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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von einer Seite zur anderen, als würde er durch Jahrzehnte chirurgischer Erfahrung hindurch in seiner Erinnerung nach Einzelheiten von Vaters Leichnam suchen. »Die Kugel hatte die Lungenarterie zerfetzt, und es gab eine relativ große Austrittswunde. Ja, es war viel Blut.«
    »Wie viel?«
    »Genug, um Blut an den Füßen in dein Zimmer zu tragen?«, antwortet er mit einer Gegenfrage. Seinem Gesicht ist nichts anzumerken.
    »Wann bin ich aufgetaucht?«
    »Unmittelbar nach dem Eintreffen der Polizei. Ich war gerade dabei, dem Beamten zu erzählen, was passiert war, als du aus der Dunkelheit erschienen bist.«
    »Aus der Richtung unseres Hauses?«
    »Ich habe nicht gesehen, woher du gekommen bist. Aber ich erinnere mich an das östliche Sklavenquartier hinter dir, also schätze ich, dass du aus dem Haus gekommen sein musst, ja.«
    »Hatte ich Schuhe an?«
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Catherine. Aber ich glaube nicht.«
    »War ich dicht bei Daddys Leichnam?«
    »Du hast praktisch auf ihm gesessen, bevor jemand dich bemerkt hat.«
    Ich schließe die Augen, versuche jenes Bild in die Dunkelheit meiner Erinnerung zurückzudrängen, wo ich alles andere aufbewahre. »War der Eindringling, den du davonlaufen sehen hast, ein Weißer oder ein Schwarzer?«
    »Ein Schwarzer.«
    »Bist du sicher?«
    »Absolut.«
    »Was für Schuhe hattest du in jener Nacht an?« Ich will diese Frage eigentlich nicht laut stellen, aber dann rutscht sie heraus, und es ist zu spät.
    »Ich hatte tagsüber Arbeitsstiefel an, aber in der Nacht … Ich erinnere mich nicht genau.«
    »Warst du nach dem Mord in meinem Zimmer?«
    »Ja. Ich wollte deiner Mutter helfen, dich zu beruhigen.«
    »War ich aufgebracht?«
    »Ein Fremder hätte es vielleicht nicht bemerkt. Du hast keinen Laut von dir gegeben. Aber ich habe es dir angesehen. Pearlie war die Einzige, die dich halten durfte. Sie musste dich im Stuhl schaukeln wie ein Baby. Das war die einzige Möglichkeit, dich zum Schlafen zu bringen.«
    Ich erinnere mich an dieses Gefühl, wenngleich nicht ausjener besonderen Nacht. Pearlie hat mich in vielen Nächten in den Schlaf gewiegt, und noch lange, nachdem ich kein Baby mehr gewesen war.
    »Nun …« Er atmet abschließend durch. »Habe ich dir jetzt alles gesagt, was du wissen möchtest?«
    Ich habe noch längst nicht die Antworten, die ich will, doch an diesem Punkt bin ich nicht sicher, wie die richtigen Fragen lauten. »Was glaubst du, wer dieser Eindringling war, Großvater?«
    »Keine Ahnung.«
    »Pearlie glaubt, es könnte ein Freund von Daddy gewesen sein, auf der Suche nach Drogen.«
    Großvater scheint mit sich selbst zu debattieren, ob er etwas dazu sagen soll oder nicht. Schließlich sagt er: »Das ist eine durchaus mögliche Hypothese. Luke hat eine Menge verschreibungspflichtige Medikamente genommen. Und ich habe ihn mehr als einmal dabei ertappt, wie er auf der Insel Marihuana angebaut hat.«
    »Das wusste ich nicht.«
    »Natürlich nicht. Wie dem auch sei, ich habe mich oft gefragt, ob er das Zeug vielleicht verkauft. Als er getötet wurde, überlegte ich, ob ich der Polizei sagen sollte, dass sie in dieser Richtung Nachforschungen anstellt, doch am Ende entschied ich mich dagegen.«
    »Warum?«
    »Was hätte es genutzt, außer den Namen der Familie zu beschmutzen?«
    Natürlich. Der Name der Familie ist wichtiger als alles andere. Selbst als die Gerechtigkeit. Ich will ihm eine letzte Frage stellen, die ich auch Pearlie gestellt habe. Doch Großvater sah meinen Vater immer als Schwächling, und wenn er geglaubt hätte, dass Vater sich selbst erschoss, hätte er seine Überzeugung bestimmt nicht für sich behalten … nicht einmal, um den Namen der Familie zu schützen. Weil er meinen Vater nicht als echten Teil der Familie sah. Und doch … es könnte noch eineReihe von Faktoren geben, von denen ich bisher nichts weiß. Meine Mutter beispielsweise.
    »Hast du in jener Nacht tatsächlich einen Eindringling gesehen, Großpapa?«
    Seine Augen weiten sich, und für einen Moment bin ich sicher, dass mein Schuss ins Blaue ein Treffer ins Schwarze ist. Bevor er spricht, streckt er die Hand nach seinem Glas aus und trinkt den restlichen Scotch darin in einem Schluck. »Warum stellst du mir diese Frage, Catherine?«
    »Hat Daddy sich in jener Nacht selbst erschossen? Hat er Selbstmord begangen?«
    Großvater hebt eine Hand zum Kinn und massiert das Fleisch darunter. Seine Augen verraten keinerlei Emotion, doch ich spüre eine

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