Bist du mein Kind? (German Edition)
hämmert es in meinem Kopf. Kann man mit Kindern handeln?
Wofür? Zu welchem Zweck? Ich weigere mich, zu Ende zu denken, was ich längst weiß. Ich will mir das einfach nicht vorstellen. Die Starke? Ich kann nicht die Starke sein, wenn so etwas Grausames Einzug in mein Bewusstsein verlangt. Von hinten fällt ein Schatten auf die Kinder. Ich drehe mich um. Wolfgang. Er schluchzt und sein Körper wird geschüttelt. Er fällt neben mir auf das Gras und kann nicht mehr aufhören. Von diesem Geräusch wird Leon magisch angezogen. Wie in Zeitlupe steht er auf, lässt das Kätzchen von seinem Schoß gleiten und kommt mit starrem Blick auf uns zu.
„Papa? Papa?“ Er ist völlig verstört. In seinem kleinen Gesicht arbeitet es. Die zwiespältigsten Gefühle kämpfen um die Oberhand. Vor Wolfgang bleibt er stehen. Er legt seine kleine Hand auf Wolfgangs Schulter. Der bemerkt es gar nicht. Ich bin hin- und hergerissen zwischen meinen Beiden. Ich möchte Leon erlösen und auch Wolfgang wachrütteln. Aber ich bin wie gelähmt.
„Papa!“ Leon fängt an zu weinen. Jetzt löse ich mich aus meiner Lähmung. Ich stehe auf und bin mit einem Schritt bei ihm. Er ist völlig verzweifelt und steht stocksteif vor seinem Vater. Ich umschließe seine kleinen zarten Schultern und drücke ihn ganz fest an mich.
„Ich liebe dich, Schatz, ich liebe dich. Alles wird gut.“ Mehr kann ich im Moment auch nicht zu ihm sagen. Er ist immer noch starr und kann seinen Blick nicht von seinem Vater lösen. Hinter uns entstehen plötzlich Geräusche. Frederic und Jean-Marie.
Sie gehen zu Wolfgang und reden leise auf ihn ein. Langsam hört er auf zu schluchzen und beruhigt sich. Jean-Marie hat seinen Arm um ihn gelegt und spricht unablässig mit ihm. Wolfgang hört zu und nickt mit dem Kopf. Das Weinen hört ganz auf.
Nicht so bei Leon. Bei meinem Sohn bricht alles auf. Ich ziehe ihn noch näher an mich und setze ihn auf meine Beine, die ich zum Schneidersitz gekreuzt habe. Er kann nicht aufhören zu weinen. Ich lasse ihn einfach. Sanft wiege ich ihn hin und her. Frederic reicht mir eine Packung mit Papiertaschentüchern. Er ist wirklich ein Engel. Das einzige, was ich für Leon tun kann, ist, ihm die Tränen wegzuwischen. Und nur das tu ich im Moment. Ihn halten und die Tränen trocknen. Wolfgang sieht zu mir herüber.
„Jean-Marie muss mit uns reden“, sagt er leise. Ich schüttele den Kopf. Was heißen soll, dass ich im Moment nicht reden kann. Ich muss mich um Leon kümmern und bin dadurch in der Lage, meine Gedanken wegzuschieben. Ich will nicht in letzter Konsequenz zu Ende denken, was ich soeben erfahren habe. Ich will nicht, ich kann nicht. Sonst werde ich wirklich verrückt. Das kann ich nicht aushalten. Das geht einfach nicht. Wie soll so ein Wissen einen Menschen nicht umbringen? Ich kann mir doch nicht vorstellen, dass mein vierjähriger Sohn einem Kinderschänderring zugeführt wird und auf schlimmste Weise gequält wird. Nein, nein. Ich kann das nicht zu Ende denken. Es geht nicht. Ich brauche Medikamente, die mein Bewusstsein ausschalten. Die diesen Teil meines Gehirns, in dem all die vielen Berichte aus Funk und Fernsehen gespeichert sind, einfach auslöschen. Damit ich mich um meine beiden Kinder kümmern kann und nach Maxi suchen kann, ohne dass ich schreien muss, weil ihm schlimme Dinge passieren. Wer kann mir solche Tabletten besorgen?
Ich merke, dass Leon ruhiger wird. Trotzdem wiege ich ihn langsam weiter hin und her. Wir haben eine Spur. Wir haben eine Spur? War es das, was sie gesagt haben? Sie haben eine Spur!
„Welche Spur habt ihr?“ Ich schaue Frederic an. Er nickt und fordert mich auf: „Kommt mit rein, wir haben einiges zu berichten. Wir nehmen auch die Kinder mit rein. Marie und Jean ruhen sich noch aus. Beide sind sehr mitgenommen durch die ganze Geschichte. Besonders Marie macht sich große Vorwürfe. Ich weiß, dass sie nichts dafür kann, aber irgendwie fühlt sie sich verantwortlich. Sie sollen jetzt einfach mal ein wenig zur Ruhe kommen.“ Genau in diesem Moment öffnet sich die Küchentür und Jean kommt über den Hof. In der Hand hält er ein Telefon. Er sieht ziemlich verknautscht aus, macht aber einen hellwachen Eindruck.
„Belgien, ich hätte es fast geschworen. Diese Sau. Diesmal machen wir ihm Feuer unten seinen verdammten pädophilen Arsch. Jetzt ist er zu weit gegangen!“
Ich verstehe kein Wort. Zwar kapiere ich seine Worte, aber mir entgeht der Sinn dessen, was er sagt, vollkommen.
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