Bitter Lemon - Thriller
ihrer Wohnung entfernt, und in umgekehrter Richtung keine 300 Meter vom Supermarkt um die Ecke entfernt. Wenn das kein gutes Omen war. Maja Jerkov parkte rückwärts ein, holte den faltbaren Plastikkorb aus dem Kofferraum, legte ihre Handtasche mit der Geldbörse in den Korb und machte sich zu Fuß auf den Weg in die Brüsseler Straße.
Noch 21 Minuten.
Der Rewe passte sich der Zielgruppe im Belgischen Viertel an und wirkte auf den ersten Blick eher wie ein gut sortierter Bio-Laden. Zum Glück tobten kurz vor Mitternacht keine Thorbens oder Leons oder Anna-Lisas oder Klara-Sophies mehr durch die Gänge und nervten Kundschaft wie Personal, während sich deren Mütter zwei Regalreihen weiter seelenruhig erkundigten, ob denn der fair gehandelte Kakao aus Bolivien garantiert frei von künstlichen Aromastoffen sei.
Nein, Maja Jerkov schien heute Abend, eine Viertelstunde vor Ladenschluss, die einzige Kundin zu sein, und auch das Personal bestand nur noch aus einer älteren Dame an der letzten noch besetzten Kasse und einem jungen, schlaksigen Mann mit blondem Bartflaum ums Kinn, gelgestylter Hahnenkammfrisur und weißem Kittel, der ein Regal mit Rohrzucker befüllte.
Als sie das Rohrzuckerregal passiert hatte, spürte sie deutlich die Blicke des Burschen auf ihrem Hintern.
Nicht, dass sie es übermäßig erstaunte, Blicke auf ihrem Hintern zu spüren. Daran war sie gewöhnt. Aber noch während der Fahrt von Bocklemünd ins Belgische Viertel, nach zwölf Stunden Außendreh fast ohne Pause, hatte sie sich nicht wie 37, sondern eher wie 73 gefühlt.
Sie warf im Gehen den Kopf zurück und schenkte ihm ein Lächeln. Der spargeldünne Kerl grinste schüchtern zurück. Wie alt mochte er sein? 18, 19? Maja Jerkov schritt auf die Tiefkühltruhe zu, grazil wie eine Königin, auf ihren roten Pumps mit den schwindelerregend hohen Absätzen, die sie bei 1,60 Metern Körpergröße für angemessen hielt, versetzte ihren diätresistenten, mächtigen Hintern mit jedem Schritt in rhythmische Schwingungen und spürte erneut die Blicke, die für einen schönen Moment ihren Körper und ihre Seele wärmten. Ein kleines, harmloses Spiel, das niemandem schadete. Immerhin fühlte sie sich nun nicht mehr wie 73, sondern wieder wie 37.
Nach einer Weile entdeckte sie in der gut sechs Meter breiten Truhe, was sie suchte, und schob den mittleren der fünf Deckel aus durchsichtigem Hartplastik zur Seite. Pizza Balance stand auf der Schachtel. Vegetarisch, aus dünnem Dinkel-Teig, mit echtem Käse, ohne künstliche Geschmacksverstärker. Genau das Richtige um Mitternacht: schnell zubereitet, scheinbar kalorienarm und mit dem beruhigenden Gefühl sättigend, dem Körper auch noch etwas Gesundes geboten zu haben.
Maja stellte den Faltkorb vor der Truhe auf dem Boden ab, um die Hände frei zu haben. Bei ihren kurzen Armen und Beinen musste sie sich weit nach vorne lehnen und tief hinabbeugen, um eines der letzten Exemplare auf dem eiskalten Grund zu erwischen. Sie bekam eine Ecke der Pappschachtel mit zwei Fingern zu fassen, als ihre Zehen plötzlich den Bodenkontakt verloren. Jemand hatte sie an den Fußgelenken gepackt. Du kleines Arschloch, findest du das etwa witzig? Na, warte. Wozu habe ich zehn Zentimeter lange Pfennigabsätze unter den Pumps? Sie konzentrierte ihre Kraft auf ihren linken Oberschenkel und …
Vergeblich.
Diese Hände, die ihre Fußgelenke wie Schraubstöcke umklammerten, waren stärker als ihre Oberschenkel. Diese Hände konnten unmöglich dem Schlaks im Kittel gehören, dachte sie noch, als sie kopfüber in die Truhe stürzte. Nicht besonders tief. Aber die Schraubstöcke schoben in einem Rutsch den Rest nach und schlossen die Abdeckung.
Kalt und still.
Die frostigen Kanten der Zanderverpackungen hatten ihre Hände beim Sturz aufgeschrammt. Die Kälte kroch augenblicklich durch ihre dünne Bluse.
Maja drehte sich blitzschnell auf den Rücken.
Das Gesicht über ihr hatte sie noch nie gesehen. Ein Mann. Groß. Breit. Sehr groß, sehr breit. Blass wie der Tod. Weißblondes Haar. Schwarze Sonnenbrille. Der Mann beugte sich vor, stützte die Hände auf den geschlossenen Plastikdeckel und betrachtete sie, so wie ein Zoologe ein seltenes Insekt unter dem Mikroskop betrachtet: interessiert, emotionslos.
Maja trat mit den Schuhspitzen gegen die Abdeckung. Wieder und wieder. Das schien den Mann zu amüsieren. Sie versuchte, ihre Hände in die millimeterenge Ritze zwischen die beiden Abdeckungen zu schieben. Von oben waren sie
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