Bitter Lemon - Thriller
Slip, zwängte alles neben ihre Handtasche in den Einkaufskorb, um keine Hinweise zu hinterlassen, trocknete sich notdürftig mit dem fleckigen Frotteehandtuch ab, das neben dem Waschbecken hing, und war zwei Minuten später auf der Straße.
Nach links.
Er würde in der Nähe ihrer Haustür oder ihres Wagens in der Lütticher Straße auf sie lauern, im Schutz der Dunkelheit, die im Gegensatz zu dem grellen Neonlicht des Supermarkts seinen empfindlichen Augen nicht gefährlich werden konnte. Wenn sie es bis zum Rudolfplatz schaffte …
Der Taxifahrer verschwendete keinen zweiten Blick. Schließlich gab es eine Menge schräger Nachtvögel in Köln. Quietschende, knallrote Pumps mit Pfennigabsätzen unter einer fluoreszierenden, drei Nummern zu großen Latzhose, wie sie die Müllwerker trugen, ein völlig verknittertes T-Shirt, dessen Trägerin auf dem Rücken für Rewe Werbung machte, sowie ein fliederfarbener Einkaufskorb … das war weiß Gott noch nichts Besonderes für diese Stadt. Hauptsache, sie kotzte ihm nicht aufs Polster.
»Wohin?«
»Nach …«
Es wäre verlockend gewesen, sich gleich zum Schrottplatz nach Worringen fahren zu lassen. Artur verhieß Schutz, Artur verhieß Ruhe und Besonnenheit, Artur verhieß heißen, dampfenden Kaffee und Rührei mit Schinken. Aber allmählich begriff sie, in welcher Gefahr jeder schwebte, der Zoran Jerkov half. Es war zu leicht, einfach dem Taxi zu folgen, oder die Adresse anschließend über die Funkzentrale ausfindig zu machen.
Sie würde einen Umweg nehmen müssen. Und sich unterwegs unbedingt ein weiteres Mal umziehen müssen. Sie wusste auch schon, wie und wo. Im Gegensatz zu vielen Kollegen in der Branche war sie nie herablassend, sondern immer freundlich zu den Pförtnern und Hausmeistern, gleich, ob in den Studios draußen in Hürth oder in Ossendorf oder in Bocklemünd, ob in den Mutterhäusern von RTL oder …
»Zum WDR bitte.«
Das Internet ist ein Segen für eitle, extrovertierte Menschen, die Wert auf eine sorgsam abgewogene Selbstdarstellung legen. Das Internet ist aber auch ein Segen für all jene, die ein berufliches Interesse daran hatten, die Lebensgeschichten eitler, extrovertierter Menschen möglichst detailreich nachzuzeichnen. Man muss nur wissen, wie man die alsbald aufgehäuften Berge unterschiedlicher, winziger Puzzle-Teile aus selbst gesteuerten und fremdgesteuerten Informationen wieder zusammenfügt.
Zu einem Menschenbild.
Darin war Kristina Gleisberg gut. Richtig gut.
Natürlich besaß Dr. Carsten F. Cornelsen eine eigene Website. Die war zwar als Grundstock ergiebig, wenn auch nicht sonderlich aufschlussreich, weil sie neben der Pflege der Eitelkeit vornehmlich dazu diente, der Zielgruppe seiner TV-Show zu signalisieren: Seht her, ich hatte es auch nicht immer leicht im Leben und habe es trotzdem zu etwas gebracht.
Geboren wurde ich am 16. Januar 1956 in Bonn …
Sieh an: Dr. Carsten F. Cornelsen hatte also am Abend des 16. Januar 1998 bei der Party in der Villa seinen Geburtstag gefeiert. Hatten die anderen solventen Gäste ihm die Entjungferung eines 13-jährigen Kindes als Überraschung spendiert? Oder hatte er sich damit selbst beschenken wollen?
Das Initial in meinem Namen steht übrigens für Freya. Das war der Name meiner tragisch und viel zu früh verstorbenen Schwester. Sie starb am Tag meiner Geburt. Meine Eltern gaben mir deshalb den zweiten Vornamen Freya im Gedenken an meine ältere Schwester, die ich leider nie kennenlernen durfte.
Freya. Die drei Jahre ältere Schwester starb am Tag von Carstens Geburt bei einem Unfall im Garten. Das Seil der Schaukel war gerissen, das Kind schlug unglücklich mit dem Kopf auf. Die Mutter erlitt durch den Schock eine Sturzgeburt. Die Eltern kamen zeitlebens nicht über den Tod des hübschen, blonden Mädchens hinweg. Carsten blieb ihr einziges Kind. Der Junge wuchs also mit einem Phantom auf. Einem ständig anwesenden Geist. Fühlte er sich schuldig, weil er die Liebe seiner Eltern eigentlich hätte teilen müssen? Oder musste er die Elternliebe tatsächlich mit einer Toten teilen? Wie viel Energie musste er aufwenden, welche speziellen Charaktereigenschaften musste er entwickeln, um sich die Liebe seiner Eltern zu verdienen? Ein totes, mit drei Jahren gestorbenes Kind, das nur in der Erinnerung existierte, war nie vorlaut, nie ungezogen, brachte niemals schlechte Schulnoten nach Hause, tat einfach nichts, was Eltern missfallen könnte.
Meine Eltern wurden 1945 aus ihrer
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