Bitter Lemon - Thriller
morgen.
Das Gorillamännchen glotzte missmutig auf Maja hinab. Maja ignorierte den Blick und konzentrierte sich stattdessen auf den Monitor gleich links neben dem Gorillamännchen. Der Monitor zeigte die Zuschauer im Studio 19. Kamera 4, die Standardeinstellung. 30 Studiogäste, die im Fernsehen wie 200 wirkten. Das Studio 19 war nicht eben das größte unter den MMC-Studios und daher bequem mit fünf Kameras und drei Kräften im schalldichten Regieraum zu steuern. Gut so.
»Der Sendeplan hat sich geringfügig geändert«, sagte Maja beiläufig und studierte währenddessen Alenka, die in der ersten Reihe saß. Sie trug ein schlichtes, schwarzes Kleid. Gesicht und Hände verrieten ihre Nervösität. Rechts neben ihr saß Tomislav, und rechts neben Tomislav die Rumänin, mit der er vor zwei Stunden aus Bukarest zurückgekehrt war. Die Maskenbildnerin sprintete über die Bühne, um die Schweißperlen von Alenkas Stirn zu tupfen. Dann hetzte sie zurück zu Cornelsen.
»So? Wieso das?« Der Ablauf-Controller links neben Maja tat sich gerne wichtig. Der Tonmeister rechts neben ihr sagte nichts. Beide waren unter dreißig und noch nicht lange im Job.
Das erleichterte die Sache.
»Überraschung.«
Mehr sagte Maja nicht. Mehr war nicht nötig. »Überra schung« war das alles legitimierende Zauberwort der CC-Show. Vor der schalldichten Tür des Regieraums dürfte sich inzwischen Artur aufgebaut haben, die Zuverlässigkeit in Person, und dafür sorgen, dass sich niemand Zutritt verschaffen konnte. Den Rest hatte sie selbst unter Kontrolle, über die zwölf in der Wand eingelassenen Monitore und über das mit Knöpfen, Schaltern und Reglern übersäte Pult, vor dem sie saß.
Der gewaltige Gorillaschädel füllte nun nicht mehr den Monitor, das Tier trollte sich, der mächtige Rücken verschwand im dichten Grün des Regenwalds, während der Abspann über die letzten Bilder aus dem Dschungel lief und verriet, wer an der Reportage aus dem Kongo mitgewirkt hatte. Tomislav legte seine Hände auf Alenkas Hände, um sie zu beruhigen.
Cornelsen stand abseits, lehnte sich an die Wand und schloss für einen Moment die Augen, wie immer um diese Zeit, und ließ in seinem fantastischen Kurzzeitgedächtnis Revue passieren, was er soeben in der Maske aus Kristinas Exposé über Alenka und ihre an Leukämie gestorbene Tochter Dalia erfahren hatte.
Maja prüfte ein letztes Mal die Liste der vorbereiteten Einspieler in der Tabelle auf dem Computer-Bildschirm und verglich die Liste mit dem neuen, improvisierten Sendeplan. Die ersten zehn Minuten würden so ganz nach Cornelsens Geschmack verlaufen. Das traurige Leben der tapferen kroatischen Gastwirtin Alenka, die ihr einziges Kind verloren hatte und doch keine Sekunde mit ihrem Schicksal haderte, dank ihres unerschütterlichen Glaubens an Gott und dank ihres priesterlichen Beistandes; ein Landsmann, den sie mit ins Studio gebracht hatte. Maja warf einen Blick auf die Uhr mit der leuchtend roten Digital-Anzeige.
14:58:21
Cut. Die Sendezentrale schob noch einen Trailer über das Sommer-Spezial am kommenden Samstag ein. Ein Volksmusikabend. Live vom Chiemsee. Wie schön.
Die beiden Dosen Früh-Kölsch, die David noch rasch aus Arturs Kühlschrank geholt hatte, als der Gorilla im tropischen Regenwald verschwunden war, standen seit einer halben Stunde unangerührt auf dem Couchtisch. David und Kristina saßen nebeneinander auf der Vorderkante des Sofas, vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, als triebe sie die Sorge, auch nur eine einzige Sekunde des bizarren Dramas zu verpassen.
Die öffentliche Demontage des TV-Stars Carsten Cornelsen war zugleich die Sternstunde des Tomislav Bralic. Der Pfarrer sprach zu den Studiogästen, die an seinen Lippen klebten, aufrecht stehend, raumfüllend und mit gerechtem Zorn in der Stimme, während die gigantische Greenscreen-Wand in seinem Rücken Kristinas gespenstisches Video von der verwaisten Villa im Wald zeigte, dann die Polizeifotos der Leiche der dreizehnjährigen Irina, der abgesperrte Fundort am Duisburger Hafen im nebligen Morgengrauen, ein frühes Kinderfoto aus Moldawien, die lachende Irina mit ihrer ernsten Mutter, schließlich Zoran, wie er vor zwölf Jahren unter Blitzlichtgewitter in den Schwurgerichtssaal geführt wurde, und wieder Zoran, wie er vor wenigen Tagen das Gefängnis verließ, alt und gebrochen.
Zoran Jerkov. Alenka Jerkov. Erst jetzt schien Cornelsen zu begreifen. Stummes Entsetzen verdrängte alle
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