Bitter Lemon - Thriller
den kühlen Terracotta-Fußboden und erhob sich mit einem leisen Ächzen. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Der Kreislauf. Sein Kopf schmerzte. Wildes Pochen unter der Schädeldecke. Er war nicht mehr der Jüngste, und zu viel Alkohol in Kombination mit zu wenig Schlaf ruinierte zunehmend seine Gesundheit. Er schwankte leicht, aber das lag auch daran, dass die absolute Finsternis seinen Augen keine Orientierung bot. Er machte kleine, vorsichtige Schritte, streckte dabei die Arme vor, um sich nicht zu stoßen. Er ahnte, wo sich der Lichtschalter befinden musste. Er tastete die Wand neben der Schlafzimmertür ab. Er drückte den Schalter.
Nichts.
Es blieb stockdunkel.
Heinz Waldorf atmete einmal tief durch und öffnete die Tür. Einen Moment, nur für den Bruchteil einer Sekunde, hatte er sich der trügerischen Hoffnung hingegeben, jenseits des Schlafzimmers erwarte ihn die gleißende Sonne des Sommermorgens. 28 Grad und einen wolkenlosen Himmel hatten die Meteorologen gestern für den heutigen Tag prognostiziert.
Er starrte unschlüssig in den stockdunklen Flur, der am Ende des Schlaftrakts in die Diele mündete. Noch bedrückender als die Finsternis war die absolute Stille im Haus. Er hörte nichts außer seinem Atem. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er nackt war. Nackt und schutzlos. Schutz? Er benötigte keinen Schutz.
Wo war sein Handy?
Vermutlich noch in der Anzugjacke.
Wo war sein Anzug?
Er brauchte dringend ein Aspirin.
Das Licht funktionierte weder im Flur noch im Bad.
Die Haustür.
Natürlich. Die Haustür.
Er würde einfach die Haustür öffnen, dann hätte er genügend Licht in der Diele, um das Aspirin zu finden, um sein Handy zu suchen und diesen verfluchten Elektriker anzurufen.
In der Diele trat er gegen die chinesische Skulptur aus poliertem Granit. Er fluchte und versuchte, den beißenden Schmerz im kleinen Zeh des linken Fußes zu vergessen. Weiter.
Er drückte die Klinke.
Vergebens.
Er rüttelte und zog an der Klinke, weil er es nicht wahrhaben wollte: Die Haustür, ein Meisterstück moderner Sicherheitstechnik, Buche mit Stahlkern, war verschlossen.
Wie waren die Nutten aus dem Haus gekommen?
Heinz Waldorf tastete nach dem Steuerungskasten der Alarmanlage rechts neben der Haustür. Die Alarmanlage besaß einen eigenen Stromkreis. Und ein Notstromaggregat.
Er fasste in einen Haufen loser Drähte.
Erstmals, seit er aus dem Schlaf geschreckt war, kroch Panik durch seine Eingeweide. Das hier war keine technische Panne. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Eine Waffe.
Er brauchte dringend eine Waffe.
Ein Messer.
Aus der Küche.
Er stieß sich erneut die Zehen, dieses Mal am Tischbein. Das Adrenalin betäubte den Schmerz. Er humpelte weiter, stützte sich schwer atmend auf die Arbeitsplatte, tastete vergeblich nach dem Messerblock – und spürte instinktiv, dass er nicht allein war. Er wirbelte herum, in einer Geschwindigkeit, die weder sein Alter noch sein Übergewicht vermuten ließen, als eine Taschenlampe aufflammte und ihn blendete. Heinz Waldorf schloss unwillkürlich die Augen und hob die Hände schützend vors Gesicht.
»Wer ist da? Was wollen Sie?«
Der Mann mit der Taschenlampe antwortete nicht. Stattdessen rammte er Heinz Waldorf das Tranchiermesser aus Edelstahl bis zum Schaft in den Bauch.
Dr. Wilhelm Gründel arbeitete als Facharzt für forensische Psychiatrie und Psychotherapie seit fast 23 Jahren nebenamtlich für die Justizvollzugsanstalt Rheinbach. Seine Doktorarbeit hatte er über den 1975 verurteilten und anschließend in Rheinbach inhaftierten NVA-Offizier, Stasi-Agenten und Kanzlerspion Günter Guillaume verfasst. Seither hatte er Vergewaltiger und Kinderschänder kennengelernt, notorische Zechpreller, raffinierte Betrüger, brutale Schläger, sadistische Serienmörder. Inzwischen konnte ihn keine Begegnung mit den Abgründen der menschlichen Seele mehr sonderlich überraschen. Aber ein Häftling wie dieser Zoran Jerkov war Dr. Wilhelm Gründel in seiner langjährigen Berufspraxis noch nicht begegnet.
»Einer wie Jerkov ist mir noch nicht untergekommen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Frau Gleisberg, Sie haben Glück, dass sich Jerkov während seiner zwölfjährigen Haftzeit jeglicher Therapie verweigerte. Sonst wäre ich nämlich nun an meine ärztliche Schweigepflicht gebunden.«
»Woher kennen Sie ihn, wenn Sie ihn nicht …«
»Wir haben regelmäßig Schach gespielt.«
»Schach?«
»Einmal pro Woche, sofern es meine Zeit erlaubte. Er hat
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