Bitter Lemon - Thriller
sich erst, als die Frau ihn fast schon passiert hatte. Sie mussten einander Platz machen, ein abgestelltes Fahrrad verengte den Bürgersteig. Ein plötzliches Stirnrunzeln in ihrem schönen Gesicht, eine stumme, unbeantwortete Frage in ihren Augen, dann war sie auch schon vorbei.
Kein Zweifel! David fiel schlagartig wieder ein, wo er diese Frau schon einmal gesehen hatte: in dem Video, das er im Keller des Polizeipräsidiums gezeigt bekommen hatte. Die Frau, die Zoran aus dem Gefängnis in die Freiheit begleitet hatte. Diese Journalistin. Wie hieß sie noch gleich?
Kristina Gleisberg.
Unwillkürlich blieb er stehen und drehte sich um, just in dem Moment, als auch sie sich, ohne ihren Schritt zu verlangsamen, über die Schulter hinweg nach ihm umschaute, sich ertappt fühlte, errötete, gleich wieder nach vorne schaute und in diesem Moment beinahe mit dem Albino-Riesen zusammengeprallt wäre.
Der Riese beachtete sie nicht weiter.
Er sah über sie hinweg, wie über ein lästiges Hindernis. Er hatte nur Augen für David Manthey.
David ging weiter und widerstand dem starken Drang, seinen Schritt zu beschleunigen. Denn mit jedem Schritt wurde David klarer, dass dieser Mann keineswegs die Aufgabe hatte, ihn zu observieren. Dieser Mann hatte etwas anderes mit ihm vor.
Hier? Mitten auf der belebten Straße?
Was nun? Angriff oder Flucht?
David trug schon seit zwei Jahren keine Waffe mehr, seit Frankfurt, seit Astrid …
Wie konnte er überraschend die Distanz verringern, den Mann auf Tuchfühlung kriegen, um ihm den über Sieg oder Niederlage entscheidenden ersten Schlag oder Tritt zu verpassen? David war sich sicher, in der Nahkampfdistanz eine reelle Chance zu besitzen. Aber wenn er die Distanz nicht schnell genug überwinden konnte und der Mann eine Schusswaffe trug, war er erledigt. Natürlich trug der Kerl eine Waffe. Ein Söldner. Ein Killer. Aber warum hatte der Mann ihn dann nicht schon längst abgeknallt, wenn er nichts weiter als seinen Tod wollte?
Kampf oder Flucht?
Der Supermarkt. Sollte er abbiegen, mit einem Satz durch die Tür, zwischen den Regalen abtauchen, die erste günstige Gelegenheit zum schnellen Angriff nutzen …
Durch die Scheibe registrierte David, dass der Supermarkt voller Menschen war. Nein. Kein guter Ort für einen Angriff. Wenn der Riese seine Waffe zücken und rumballern würde …
Weiter.
Vielleicht konnte er im Hauptbahnhof abtauchen.
In weniger als drei Minuten würde er das von der Turiner Straße begrenzte südliche Ende des Eigelstein-Viertels erreichen. Und sich entscheiden müssen zwischen zwei Möglichkeiten: entweder rechts durch den Tunnel, der die elf Bahngleise unterquerte, in Richtung Marzellenstraße und von dort weiter Richtung Dom zum Haupteingang des Bahnhofs. Oder geradeaus, über den schmalen, für Autos gesperrten Fußweg quer durch die Großbaustelle, immer am Fuß der Trasse entlang, bis zum rückwärtigen Eingang gleich neben dem Bus-Terminal.
Was nun?
Der Lastwagenfahrer, der in diesem Augenblick genau vor David mitten auf der Turiner Straße den ächzenden Sattelzug stoppte, den Warnblinker einschaltete und in aller Gemütsruhe den Stadtplan vor sich auf dem Lenkrad ausbreitete, sorgte für die Entscheidung. David umkurvte gemessenen Schrittes den 36-Tonner, bis er in dessen Sichtschatten eintauchte.
Dann rannte er los.
Geradeaus, über die Turiner Straße, auf den abgezäunten Fußweg zwischen Trasse und U-Bahn-Baustelle zu. Gut 200 Meter bis zum Hauptbahnhof. Inständig hoffte er, dass ihm der Sichtschatten des Lastwagens einen kleinen Vorsprung verschafft hatte, dass sein Verfolger erst mit Verzögerung zum Sprint gestartet war.
Es hatte Zeiten gegeben, da war David Manthey die 200 Meter in 23 Sekunden gelaufen. Lange her. Mit Sportschuhen, auf dem Aschenplatz der Polizeischule. Aber das Adrenalin trieb ihn vorwärts. Und das Geräusch in seinem Rücken: der gleichmäßige, unbarmherzige Takt eisenbeschlagener Schuhe auf dem Asphalt. Sein Herz raste, und jeder gierige Atemzug verursachte stechende Schmerzen in seiner Lunge. Noch 50 Meter, er konnte den Breslauer Platz bereits sehen, Dutzende Taxis in der Warteschleife, die Shuttle-Busse nach Polen, die Junkies und Stricher. Noch 30 Meter. In seinem Rücken brüllte der Riese Kommandos in einer Sprache, die David nicht verstand. Der Riese arbeitete also nicht allein. Eine schwarze Mercedes-Limousine mit herabgelassenen Seitenscheiben stoppte vor dem Taxistand, aus dem Wagen sprangen zwei
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