Bitter Lemon - Thriller
sich wie im siebten Himmel. Ihre Tochter Irina war sehr gut in der Schule, vor allem in Mathematik, deshalb schenkte Grigorii dem Mädchen einen Taschenrechner mit Solarbetrieb. Eines Abends erschien Grigorii und strahlte schon in der Tür übers ganze Gesicht. Er hatte Champagner mitgebracht, er öffnete die Flasche geschickt und mit großspuriger Geste, die Irinas Mutter für weltmännisch hielt. Er hatte sogar drei Gläser mitgebracht, langstielige aus feinem, hauchdünnem Glas. Irina und ihre Mutter mussten sich an den Küchentisch setzen und mit ihm anstoßen. Grigorii verkündete die gute Nachricht: Sein Neffe arbeite bei der deutschen Filiale jener amerikanischen Computerfirma in Berlin, und der Boss der Filiale suche für die Nachmittagsbetreuung seiner Kinder ein nettes und tüchtiges Au-pair-Mädchen. Er sei dafür bereit, Irina außer Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld den Besuch einer teuren Privatschule zu bezahlen. Ein deutsches Abitur an einer angesehenen Privatschule sei wie die Eintrittskarte in ein besseres Leben, versicherte Grigorii. Mit einem Stipendium könne Irina sogar in Deutschland studieren. Bei ihrem Talent. Irinas Mutter wusste später, als Tomislav sie in dem schäbigen Wohnblock am Rande der moldawischen Hauptstadt gefunden hatte, nicht mehr zu sagen, was eigentlich dazu geführt hatte, dass die lebenstüchtige und von Natur aus eher misstrauische Frau damals völlig darauf verzichtet hatte, ihr Gehirn zu gebrauchen. Eines Morgens holte Grigorii ihre Tochter ab, um sie zum Flughafen zu fahren, zum Aeroportul International Chisinau, 14 Kilometer südlich der Hauptstadt. Ein letztes Mal umarmte sie ihre über alles geliebte Tochter, achtete darauf, dass sich der frisch ausgestellte Reisepass griffbereit in der Innentasche ihres nagelneuen Anoraks befand und der kleine, abgewetzte Koffer ordentlich verschlossen war. Irina nahm auf dem Beifahrersitz des Audi Platz und winkte, bis der Wagen hinter dem nächsten Wohnblock verschwand. Irinas Mutter winkte zaghaft zurück. Plötzlich schnürte ihr die Angst die Kehle zu, als ahnte sie in diesem Augenblick, was passieren würde. Sie sah ihre Tochter nie wieder. Und Grigorii auch nicht.
Damit endeten Zorans handschriftliche Notizen.
David rieb sich die Augen. Schließlich studierte er die restlichen Blätter. Schlechte Fotokopien von Zeitungsausschnitten, vor dem Vergilben und Vergessen bewahrt.
Am Dienstag, 20. Januar 1998, drei Tage nach Maries Tod am 17. Januar, zwei Tage nach Zorans Festnahme am frühen Sonntagmorgen, berichtete die NRZ in ihrem Duisburger Lokalteil in wenigen sterilen Zeilen über den Fund einer Leiche am Rheinufer, knapp zwei Stromkilometer oberhalb des Container-Hafens. Der Hund eines Spaziergängers hatte die Leiche am frühen Abend des Vortages entdeckt.
Am Mittwoch, 21. Januar, berichtete die Zeitung ausführlicher über den Stand der Ermittlungen und die ersten Ergebnisse der Autopsie und hielt sich dabei akribisch an das klassische Behördenvokabular. Als versuchte der Schreiber auf diese Weise, seine Seele auf Distanz zu halten. Demnach war die Tote weiblich, vermutlich zwischen 13 und 15 Jahre alt, 1,68 Meter groß und 64 Kilogramm schwer. Gelocktes, kastanienfarbenes Haar mit blond eingefärbten Strähnchen. Braune Augen. Die Leiche war unbekleidet, das Mädchen trug keinerlei Schmuck. Der Tod trat durch äußere Gewalteinwirkung ein, vermutlich wurde sie erdrosselt. Sowohl die Autopsie als auch die Untersuchungen der Kriminaltechniker am Fundort legten den Schluss nahe, dass das Mädchen nicht am Rheinufer, sondern mindestens drei Stunden zuvor an einem anderen, einem unbekannten Ort ermordet worden war. Vermutlich wurde die Leiche im Kofferraum eines Autos zum Duisburger Hafen transportiert.
Die Beschreibung passte zu keiner vermissten Person in der bundesweiten Fahndungsdatei, also schickte man ein Fax an Interpol. Zwei Wochen später druckte die Zeitung eine Meldung, dass auch die Nachforschungen via Interpol keinerlei Hinweise auf die Identität des toten Mädchens erbracht hätten und dass die Duisburger Kripo weiterhin im Dunkeln tappe.
David schüttelte unbewusst den Kopf.
Polizeideutsch war zweifellos furchtbar.
Journalistendeutsch konnte aber ebenso furchtbar sein. Die Polizei tappt im Dunkeln. Was sollte diese von Reportern so gern verwendete Formulierung eigentlich bedeuten? Wer solche Sätze schrieb, hatte keine Ahnung von Polizeiarbeit.
David schob die beiden Seiten über den
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