Bitter Süsse Tode
gegeben.«
Ich atmete vorsichtig ein. »Warum sagen Sie das nicht der Polizei?«
»Mein lieber Animator, unter uns sind viele, die dem menschlichen Rechtssystem nicht trauen. Wir wissen, wie gerecht die menschliche Justiz gegen die Untoten ist.« Sie lächelte, und wieder fehlte das Grübchen.
»Jean-Claude war der fünftmächtigste Vampir in dieser Stadt. Jetzt ist er der drittmächtigste.«
Ich sah sie an, wartete darauf, dass sie lachte und sagte, das sei ein Scherz gewesen. Sie behielt das Lächeln bei, exakt dasselbe, als wäre es aus Wachs. Hielten sie mich zum Narren?
»Jemand hat zwei Meistervampire umgebracht? Die stärker waren als« - ich musste schlucken, ehe ich weiterreden konnte - »Jean-Claude?«
Das Lächeln wurde breiter, zeigte für einen kurzen Augenblick die Fänge. »Sie begreifen wirklich schnell. Das will ich Ihnen zugestehen. Und vielleicht macht das Jean-Claudes Bestrafung weniger - ernst. Er hat Sie uns empfohlen, wussten Sie das?«
Ich schüttelte den Kopf und sah zu ihm hin. Er hatte sich nicht mehr bewegt, nicht einmal um zu atmen. Nur seine Augen waren auf mich gerichtet. Dunkelblau wie der Nachthimmel und ein wenig fiebrig. Er hatte noch nicht gegessen. Warum ließ sie ihn nicht essen?
»Warum wird er bestraft?«
»Sind Sie seinetwegen besorgt?« Sie tat überrascht. »Ach, du meine Güte, sind Sie denn nicht böse, dass er Sie in diese Lage gebracht hat?«
Ich sah ihn einen Moment lang an. Dann wusste ich, was ich in seinen Augen sah. Es war Angst. Er fürchtete sich vor Nikolaos. Und ich wusste, wenn ich überhaupt einen Verbündeten in diesem Raum hatte, dann ihn. Angst verbindet stärker als Liebe oder Hass, und obendrein wirkt sie schneller.
»Nein«, sagte ich.
»Nein, nein«, wiederholte sie affektiert mit verächtlichem Singsang, dem Spott eines Kindes. »Fein.« Ihre Stimme klang plötzlich tiefer, erwachsener, ein heißer Zorn flimmerte darin. »Wir machen Ihnen ein Geschenk, Animator. Wir haben einen Zeugen für den zweiten Mord. Er sah Lucas sterben. Er wird Ihnen alles erzählen, was er gesehen hat, nicht wahr, Zachary?« Sie lächelte den rotblonden Mann an.
Zachary nickte. Er trat hinter dem Stuhl hervor und machte vor mir eine leichte Verbeugung. Seine Lippen waren zu schmal für sein Gesicht, sein Lächeln falsch. Doch die eisgrünen Augen sahen mich unverwandt an. Das Gesicht hatte ich schon einmal gesehen, aber wo?
Er schlenderte zu einer Tür, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Sie war zwischen den flackernden Schatten der Fackeln verborgen, aber dennoch hätte ich sie sehen müssen. Ich sah zu Nikolaos, und sie nickte mir zu, ein Lächeln krümmte ihren Mund.
Sie hatte die Tür vor mir verborgen, erfolgreich. Ich versuchte aufzustehen, stützte mich mit den Händen ab. Ein Fehler. Keuchend erhob ich mich so schnell es ging. Meine Finger waren bereits steif von den Blutergüssen und Kratzern. Wenn ich den nächsten Tag noch erlebte, würde ich ein einziges wundes Etwas sein.
Zachary öffnete die Tür mit schwungvoller Gebärde, wie ein Zauberer einen Vorhang wegzieht. Ein Mann stand in der Tür. Er war mit den Überbleibseln eines Straßenanzugs bekleidet. Eine schlanke Figur, ein bisschen dick um die Mitte, zu viel Bier, zu wenig Bewegung. Er war vielleicht dreißig.
»Komm«, sagte Zachary.
Der Mann kam in den Raum. Seine Augen waren kugelrund vor Angst. An seinem kleinen Finger blinkte ein Ring. Er stank nach Angst und Tod.
Seine Haut hatte noch Farbe, die Augen wirkten lebendig. Er konnte eher als Mensch durchgehen als jeder Vampir im Raum, aber er war auch einer Leiche näher als sie. Es war nur eine Frage der Zeit. Ich verdiente mein Geld damit, Tote zu erwecken. Ich wusste, wann ich einen Zombie vor mir hatte.
»Erinnerst du dich an Nikolaos?«, fragte Zachary.
Die menschlichen Augen des Zombie wurden groß, und die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Verdammt, er sah wirklich wie ein Mensch aus. »Ja.«
»Du wirst ihre Fragen beantworten, verstehst du das?«
»Ich verstehe.« Er runzelte die Stirn, als konzentrierte er sich auf etwas, an das er sich nicht ganz erinnern konnte.
»Bisher wollte er unsere Fragen nicht beantworten. Oder?«, fragte Nikolaos.
Der Zombie schüttelte den Kopf, er starrte sie ängstlich fasziniert an. So starrte wahrscheinlich ein Kaninchen die Schlange an.
»Wir haben ihn gefoltert. Aber er war äußerst stur. Dann erhängte er sich, bevor wir damit fortfahren konnten. Wir hätten ihm den Gürtel abnehmen
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