Bittere Mandeln
beschwichtigend die Hand. »Wir wollen Sie ja nicht ins Gefängnis stecken, Shimura-san. Aber wir müssen wissen, wo Sie und Ihre Nichte sich aufhalten. Nicht nur zur Sicherheit anderer Leute, sondern auch zu Ihrer eigenen.«
Norie nickte unglücklich. Wahrscheinlich war ihre Stimmung genauso schlecht wie meine. Mir tat immer noch der Hals weh, also beugte ich mich vor, um mir eine zweite Tasse Tee einzugießen. Dabei fiel mein Blick auf einen meiner alten Kimonos an dem Kleiderständer hinter Lieutenant Hatas Regenmantel. Dieser Jahrhundertwende-Kimono aus geometrisch gemusterter orange-weißer Seide war so aufgehängt, daß man seine wunderschönen tiefen Ärmel gut sehen konnte. Bei seinem Anblick kam mir plötzlich ein verblüffender Gedanke: Mrs. Koda hatte einen Kimono mit ähnlich weiten Ärmeln getragen. War es möglich, daß sie eine Packung Ameisengift darin verborgen und mir in die Tasse geschüttet hatte, als ich nicht aufpaßte? Ich sagte Lieutenant Hata, was mir soeben eingefallen war.
»Wie kannst du so etwas sagen, Rei -chan?« entgegnete meine Tante, als ich meine Ausführungen beendet hatte. »Ich bin seit Ewigkeiten mit Mrs. Koda befreundet! Sie würde dir nie wehtun.«
»Viele deiner langjährigen Freundinnen sind in letzter Zeit nicht sonderlich nett zu dir gewesen«, erinnerte ich sie. »Weißt du noch, wie die Damen dich während der Ausstellungsvorbereitung im Mitsutan geschnitten haben?«
»Ich bezweifle, daß an Ihrer Theorie, Mrs. Koda könnte das Gift vorsätzlich in Ihren Tee getan haben, etwas dran ist«, sagte Lieutenant Hata. »Das Gift befand sich in der Zuckerschale, und die war für alle zugänglich. Also war möglicherweise geplant, während der Ausstellung eine ganze Reihe von Leuten zu vergiften.«
»Ein Terrorakt?« Tante Norie traten die Tränen in die Augen.
»Warum nicht?« fragte ich. »Che Fujisawa und die Stop-Killing-Flowers-Gruppe waren vor dem Mitsutan, als ich das Kaufhaus betreten habe.«
»Das wissen wir, aber wir glauben nicht, daß sie etwas damit zu tun haben. Der Giftanschlag bei der Blumenausstellung hatte viel mehr Ähnlichkeit mit dem Giftmord an Sakura Sato.«
Das war nun allerdings eine Neuigkeit!
»Als wir sie gesehen haben, steckte eine Schere in ihrem Hals. War das Gift etwa an dieser Schere?« fragte ich mit lauter Stimme, weil draußen auf der Straße jemand hupte.
»Tja, hier wird’s kompliziert«, sagte Lieutenant Hata. »Ich würde ja gern mit Ihnen darüber sprechen, doch ich fürchte, daß das, was ich Ihnen zu sagen habe, Sie schockieren könnte.«
»Mich schockiert so leicht nichts«, erklärte ich.
»Als Sie Miss Sato gefunden haben, waren Sie vermutlich erschrocken über das viele Blut«, sagte Lieutenant Hata. »Aber in Wahrheit befand sich nur ein wenig davon an ihrem Hals und ihrer Bluse. Das liegt daran, daß das Blut schon nicht mehr vom und zum Herzen transportiert wurde, als der Einstich erfolgte.« Hata hielt inne und sah Tante Norie besorgt an. Doch sie gab ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß er weiterreden könne.
»Miss Sato wurde mit dem gleichen Ameisenmittel vergiftet wie Miss Shimura, aber sie war leider nicht so kräftig wie sie und ist daran gestorben. Vermutlich hat sie eine vorsätzlich vergiftete Tasse Tee im Vorraum getrunken. Im Anschluß daran wurde ihr übel, denn sie hat sich bei den Schülerinnen entschuldigt und ist in die Damentoilette gegangen. Bald darauf waren auch die anderen mit ihrem Tee fertig, also ist es gut möglich, daß jemand ebenfalls in der Toilette aufgetaucht ist und sie gefunden hat. Vielleicht ist sie ihrem Mörder aber auch vor dem Erreichen ihres Ziels begegnet. Jedenfalls muß jemand sie ins Kurszimmer gebracht und ihr dort die Schere in den Hals gestoßen haben.«
Wieso gibt sich jemand solche Mühe mit den Details? dachte ich, aber dann fiel mir ein, daß Ikebana auf der Kunst des Details basierte. Die Blumen wurden zuerst durchs Abschneiden getötet, und dann tat man ihnen Gewalt an, bis sie ein schönes Arrangement ergaben. Der Mörder von Sakura schien mit seiner Tat in gespenstischer Weise auf die Kunst des Ikebana anspielen zu wollen.
»Vermutlich ist der Täter ein Ikebana-Künstler«, sagte ich.
»Wir haben noch niemanden von unserer Liste gestrichen«, erwiderte Lieutenant Hata. »Vielleicht fällt Ihnen aber irgend jemand ein, der Ihnen und Ihrer Tante Ärger machen möchte.«
»Ich dachte, die Leute mögen mich.« Tante Norie begann zu schluchzen. »Alle
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