Bitterer Chianti
weiter über die Superstrada. Er musste die Filme ins Labor zum Entwickeln bringen, außerdem waren sie dort sicher. Der Mechaniker Folinari war die einzige Verbindung, und diese Verbindung kannte niemand. Er gab Gas, er fuhr den Wagen bis an die Grenze, was auf den schmalen, kurvenreichen Straßen lebensgefährlich war. Als er die Ausläufer des Chianti erreichte, die flachen Hügel des Crete, beschleunigte er weiter, schleuderte durch eine Kurve, aber danach war die Straße wieder gerade, und der Wagen fing sich. Eine Stunde später war er in Florenz, und als er gegenüber dem Labor im Supermarkt die Einkäufe erledigt hatte, fuhr er zurück.
Die Bar in Vagliagli war brechend voll. Wie üblich saßen Touristen draußen auf der Terrasse, die Erntearbeiter drängten sich drinnen, und es kostete Frank Mühe, bis an den Tresen vorzustoßen. Er bestellte Kaffee, seinen persönlichen Treibstoff, und eine große Flasche Wasser. Da fiel sein Blick auf die Überschrift in einer Zeitung:
Noch immer vermisst: Vater und Sohn!
Frank las den Artikel. Er erging sich in allen möglichen Theorien über den Aufenthaltsort von Giuseppe und Niccolò Palermo. Man hatte das Weingut minuziös abgesucht, in jedem Gärbottich nachgeschaut, alle Freunde befragt, eine Belohnung ausgesetzt, der Hund (war das nicht der Setter?) hatte das gesamte Gelände abgesucht – aber nichts. Ob Vater und Sohn verschleppt worden waren? Ein Verbrechen der Mafia? Das sollte jetzt eine alte Frau klären. Ihr eilte der Ruf des zweiten Gesichts voraus, sie sollte eine der letzten Hexen der Toskana sein und konnte sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen.
Frank fand einen Platz in einer Ecke, wo er trotz des lauten Fernsehers ein wenig dösen konnte. Ihm gingen die Prediger nicht aus dem Sinn. Der Commissario war ein widerlicher Hund, nicht anders als die beiden Männer oben auf dem Berg. Und dann dieser junge Polizist, grün hinter den Ohren, aber genauso aufgeblasen wie der Polizeichef. Spielte sich auf als Beschützer der dämlichen Laura. Der Junge war schlicht neidisch und konstruierte irgendeine Lügengeschichte. Und dieser Kellner im Ospedale Santa Maria: Was mochte in den Spritzen gewesen sein? Gift war es nicht, sondern etwas, was den Wein verdarb. Es war in den letzten Tagen viel passiert. Der Brand bei Malatesta – eine Petroleumlampe war noch kein Beweis für Brandstiftung. Aber wer hatte die Strommasten abgesägt?
Frank war müde, ihm sank der Kopf auf die Brust – bis er jäh hochschreckte. Alles schrie durcheinander und strömte nach draußen, auf der Terrasse gab es fürchterliches Gedränge, die Arbeiter schoben sich zwischen den protestierenden Touristen durch bis vorn ans Geländer. Als Frank ans Fenster trat, sah er, dass sogar Passanten auf der Straße stehen blieben:
Einem weißen Polizeiwagen mit Blaulicht folgte langsam ein zweiter in einer Staubwolke, dann eine Art Mannschaftswagen und zuletzt ein großer Krankenwagen.
«Den brauchen sie nicht mehr», rief jemand von der Straße her. «Sie haben Palermo gefunden! Und Giuseppe!»
«Sind sie am Leben?», wollte jemand auf der Terrasse wissen.
Der Gefragte winkte ab: «Nein. Beide tot!»
Einen Moment lang herrschte Schweigen, nur die Stimmen der Touristen, die nichts von alldem verstanden, durchbrachen die Stille. Frank drehte sich langsam um und ging zu seinem Platz zurück. Wieso bekam er Angst, wieso war er erschüttert? Er hatte Niccolò Palermo nie kennen gelernt. Jetzt war der Mann tot, sein Sohn auch. Was wäre gewesen, wenn er früher gekommen wäre ...?
Er sah Signora Palermo vor sich, gestern auf der Verkostung. Gefasst hatte sie die Glückwünsche für den gelungenen Wein des Vorjahres entgegengenommen und alle Fragen nach ihrem Mann geduldig beantwortet. Wer war dieser Palermo? Bis vor drei Tagen lediglich ein Name auf der Liste des Redakteurs. Dann waren die Prediger erschienen, durch sie war Frank irgendwie in all diese Ereignisse hineingezogen worden. War es Mord? Hatten sie ...?
Trotz der Hitze in der Bar lief es Frank kalt den Rücken hinunter. Wenn die Prediger geglaubt hatten, dass er ... deshalb hatten sie die Kamera zerschlagen und die Filme ... Frank schluckte. Sie hatten sich beobachtet gefühlt, als er das Teleobjektiv auf sie richtete ... Er war nicht feige, war Auseinandersetzungen nie aus dem Weg gegangen. Aber jetzt traute er sich kaum, seine Gedanken zu Ende zu denken. Wenn die Prediger also angenommen hätten, dass er sie fotografiert hatte
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