Bitterer Chianti
Schneidbrenner sehr vorsichtig sein, denn Gras und Gestrüpp an den Wänden der Schlucht waren knochentrocken und konnten wie Zunder brennen. Aber schließlich gelang es ihnen, die Kabine aufzuschneiden und die Leiche des Baggerführers zu bergen. Um das Wrack des Baggers aus der Schlucht heraufzuholen, wollte man Tageslicht abwarten, erst dann konnte man sich auch um die Brücke kümmern.
Gegen drei Uhr war Frank ins Bett gekommen, nachdem er die Fenster und auch die Läden fest verschlossen und sogar die Vorhänge zugezogen hatte, um möglichst lange schlafen zu können. Als er sie am Morgens öffnete, machte ihn die Helligkeit draußen für einen Moment blind, die Sonne schien direkt auf sein Fenster. Er nahm sich die Zeit für ein ruhiges Frühstück, wusch das Geschirr ab, schnappte sich die neue F4 und machte sich auf die Suche nach dem Winzer.
Renato Benevole arbeitete bereits in der Schlucht, knapp 500 Meter unterhalb der Unfallstelle. Er war seit Tagesanbruch auf den Beinen. Er hatte versucht, Zimmerleute aufzutreiben, die ihm aus Stämmen und Brettern eine Behelfsbrücke bauten. Ihm selbst und seinen Leuten war das Wochenende egal, aber die Bauarbeiter hatten frei. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als es selbst in die Hand zu nehmen.
An einer Stelle, wo früher mal ein benutzter Weg bis an die Schlucht führte, ließ er zwei hohe Bäume fällen. Der eine fiel wie geplant über die Schlucht, den anderen musste er mit seinem kleinen Raupenschlepper an die richtige Stelle ziehen. Die Strafe, die er für das Fällen der Bäume ans Umweltamt würde zahlen müssen, war in jedem Fall geringer als der Verlust beim Ausfall der Ernte. Dann wurden Bretter auf die Stämme genagelt, eine Art Geländer angebracht, und vom Nachmittag an sollte ein Lieferwagen die Kisten mit den Trauben auf die eine Seite der Schlucht bringen. Helfer würden sie über den Steg auf die andere Seite tragen, und dort konnte Benevole sie in Empfang nehmen und mit dem kleinen Trecker und einem Hänger in die Kellerei fahren. So sah sein Plan aus. Einige Male waren er und seine Arbeiter schon drübergelaufen – dann stürzte die Brücke unter lautem Getöse zusammen. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Am Nachmittag sollte ein zweiter Versuch mit der Hilfe eines Zimmermanns unternommen werden.
Die Rettungskräfte setzten einen Raupenschlepper ein, der mit einem Drahtseil den Bagger aufrichtete, damit man das Wrack auf den bereitstehenden Tieflader ziehen konnte. Das Manöver misslang, weder ließ sich der Bagger aufrichten noch aus der Schlucht ziehen. Der Fahrer des Raupenschleppers hatte den toten Baggerführer gekannt – es war sein Kollege aus Radda, mit dem er für MV-Leasing arbeitete. Was den Kollegen dazu verleitet haben mochte, mitten in der Nacht im Bagger herumzufahren, war auch ihm schleierhaft.
Frank sah bei den Bergungsarbeiten zu, dann schlenderte er noch einmal zur eingestürzten Behelfsbrücke. Die Schlucht war nicht tief, es waren sechs bis sieben Meter, aber die Wände waren steil. Im Winter, nach der Schneeschmelze, und im Frühjahr führte der Bach unten viel Wasser, jetzt konnte er nicht mal als Vogeltränke dienen. Renato war mit seinem Trecker den Berg hinaufgefahren, der Lieferwagen wieder zum Weinberg unterwegs, erst einmal herrschte Ruhe. Nur Fliegen und Hummeln summten Frank um die Ohren, als er sich im Schatten auf einen Baumstamm setzte und dem Blatt nachblickte, das sich kreiselnd dem Grund der Schlucht näherte.
Im Café in der Via Roma in Castellina herrschte Sonntagsbetrieb. Alle Tische waren besetzt und der lange Tresen dicht umlagert. Rechts in der Ecke hing der Fernsehapparat – Inter Mailand spielte gegen Juventus Turin. Im allgemeinen Lärm der Gäste und des Kommentators wäre seine Bestellung fast untergegangen, aber der Wirt hatte gelernt, den Gästen die Wünsche von den Lippen abzulesen.
Frank ging mit dem Kaffee und einem Sambuca auf die Terrasse. Jemand zupfte ihn am Hemd. Er drehte sich um. Es war der Polizist mit den müden Augen und dem Bart, Signor Rionero von der Mordkommission.
«Sie hätte ich hier nicht erwartet», entfuhr es Frank.
«Und ich hätte Sie um 15 Uhr im Kommissariat erwartet, in einer halben Stunde», konterte der Polizist. «Besser so, wir ersparen uns die ungemütliche Atmosphäre, das wird Ihre Laune bessern. Ich werde Sie beim Commissario entschuldigen.» Rionero schien sich an dem Gedanken zu erheitern. «Oder vermissen Sie ihn etwa? Ich kann meine
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