Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
danach gesehnt, sie in seinen Armen halten zu dürfen. Und nun, da sie es ihm erlaubte, standen die Toten von Krumau wie drohende Schattenfiguren zwischen ihr und ihm.
»Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass es Mord gewesen sein könnte?«, flüsterte er.
Sie schrak zusammen. »Mord? Aber wer, um Himmels willen, sollte meine Verwandten und einen völlig fremden Reisenden umbringen? Und wie? Mit Gift?«
Gersdorf zuckte mit den Schultern. Wenn er das gewusst hätte, wäre ihm auch wohler gewesen.
Mitten in der Nacht wurde Gersdorf von einem Schrei geweckt, dem ein klägliches Wimmern folgte. Er zog die Bettvorhänge zurück, wobei ihm auffiel, dass der Platz an seiner Seite leer war. Maria, die ihn mit ihrer Bitte, sie bei ihm schlafen zu lassen, überrascht hatte, war verschwunden. Erschrocken warf er sich in Hemd und Hose und stürzte aus der Kammer, um nachzusehen, woher die jammervollen Geräusche kamen.
Die Tür zum Gesindetrakt stand offen. Gersdorf hörte weitere Schreie, die ohne jeden Zweifel aus dem Stübchen der Hausmagd kamen. Dort entdeckte er Maria, über das Bett der jungen Eva gebeugt. Ihr Haar fiel ihr offen über die Schultern und ihr weites Nachthemd wies Blutspritzer auf. Obgleich Gersdorf während seines Studiums und der Arbeit in Spitälern und Lazaretten schon viel gesehen hatte, jagte ihm der Anblick seiner Braut und des schreienden Mädchens im Bett einen Schauer über den Rücken. Mühsam unterdrückte er einen Fluch.
Maria drehte sich um. »Sie ... ist verletzt. Sie blutet am Hals!«, rief sie. »Ich wollte die Blutung mit meinem Nachthemd stillen, aber ...«
Eva hatte aufgehört zu schreien und starrte verstört ins Leere. Gersdorf kümmerte sich sogleich um sie. Die kleinen Wunden an ihrem Hals, die ihm wie Nadelstiche vorkamen, bluteten zwar heftig, waren aber nicht tief. Evas Herzschlag war erhöht, der Puls raste. Aber alles in allem schien sie doch mit einem Schrecken davongekommen zu sein. Während Gersdorf ihre Wunden mit Alkohol reinigte und verband, schaute sich Maria in der Kammer um.
»Das Fenster steht sperrangelweit offen«, sagte sie leise. »So muss er hereingekommen sein.«
»Wer?«
»Na, wer schon? Der Mann, der Eva überfallen hat.«
Gersdorf warf der zitternden Hausmagd einen ratlosen Blick zu, bevor er zum Fenster ging und sich prüfend über die Brüstung beugte. Die Schlafkammer lag direkt unter dem Dachboden, aber wer auch immer sich Zutritt verschafft haben mochte, musste ein geübter Kletterer sein, denn zwischen dem kleinen Dachfenster und dem nächsten Giebel klaffte eine große Lücke. Es war fast unmöglich, sich über die Dächer davonzumachen. Es sei denn, der Bursche hatte Flügel und war davongeflogen.
»Da draußen ist niemand. Hast du gesehen, wer dir die Verletzungen beigebracht hat?«, wollte er von der Magd wissen, die sich inzwischen wieder ein wenig gefangen hatte. Doch Eva verneinte, sie hatte geschlafen und war erst durch die schmerzhaften Stiche an ihrer Kehle wach geworden. Da sie das blutige Nachthemd ausziehen und sich säubern wollte, bat sie Gersdorf mit schwacher Stimme, sie solange allein zu lassen.
»Ich gehe schon. Sollte sowieso mal nach dem Jungen und Marias Onkel schauen.«
Maria nickte zustimmend. Sie hatte dem Apothekengesellen befohlen, heute die Nachtwache bei seinem Dienstherrn zu übernehmen, doch wie Gersdorf den jungen Burschen kennengelernt hatte, war der bestimmt nach wenigen Momenten eingeschlafen und schnarchte nun vor sich hin.
Zu Gersdorfs Überraschung war Eva schon am frühen Morgen wieder auf den Beinen. Wer immer in der Nacht in ihre Kammer eingedrungen war, war offensichtlich gestört worden, bevor er sie hatte töten oder ernsthaft verletzen können.
»Warum sollte ich im Bett bleiben?«, rief sie abwinkend. »Die Arbeit im Haus macht sich nicht von allein. Ein wenig Ringelblumensalbe und ein Schluck Wein, mehr brauche ich nicht. Lasse mich doch von einer solchen Kanaille nicht erschrecken!«
Während Eva im Salon heißen Kaffee servierte, dachte Gersdorf nach. Er fand es mutig von Eva, dass sie die Angelegenheit herunterspielte, fragte sich aber, ob sie das nur tat, um jemanden im Haus zu schützen. Während sie überfallen worden war, hatten alle geschlafen. Außer Maria. Sie war als Erste in Evas Kammer gewesen. Aber warum sollte seine Verlobte Eva nach dem Leben trachten? Das ergab doch keinen Sinn. Überhaupt passte in dieser Sache nichts zusammen. Marias Tante und ihr Vetter waren ungeachtet
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