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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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Schlangenhaut mit Wasser, das sie mit ein wenig Weißdornsaft versetzt hatte, sowie die Schwanenfeder. Mehr brauchte sie nicht. Die Feen würden sie in der Zeit bei den Linien nähren.
    Sie benötigte zwei Tage, bis sie die Mitte der riesigen Senke erreicht hatte, die einst ein See gewesen war. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich zerklüftet und wild eine Kette kahler Berge, die Stämme nannten sie Alpen. Ihre Spitzen reichten bis in den Himmel. Dort trafen sich die Feen mit den Göttern. Den Stämmen war das Hinaufsteigen untersagt. An Regentagen hüllten sich ihre Flanken und Gipfel in einen Mantel aus Wolken. Sie überragten den Hügel, in dem ihre Höhle lag, um ein Mehrfaches. An guten Tagen, wenn der Wind nicht zu stark wehte und ein Schleier aus Sand die Sicht behinderte, konnte sie vom Höhlenhügel des Vogelstammes aus die Spitzen dieser Berge am Horizont erkennen. Selbst von fern wirkten sie ehrfurchtgebietend in ihrer kahlen, kantigen Schönheit.
    Sie sah sich um. Ja, dies war ein wahrhaft heiliger Ort. Die Senke war von unzähligen Linien durchzogen. Manche überschnitten sich, andere liefen auseinander. Die Feen hatten sie in die Senke gezeichnet. Sie waren gut zu den Hegau Nazcas. Denn wie sonst hätten ihre Mädchen das vorgeschriebene Ritual erfüllen können? Die Linien waren monumental, die Figuren deshalb aus der Nähe nur schwer zu erkennen. Aber wie jede Frau des Vogelstammes hätte sie selbst im Schlaf zu dem Vogel mit den ausgebreiteten Schwingen gefunden.
    Jedoch wo waren die anderen Mädchen? Was war mit ihnen geschehen? Rianna runzelte verwirrt die Stirn. Waren sie schon zurückgekehrt? Dann hätte sie ihnen doch begegnen müssen. Hatte sie zu lange gezögert und musste nun die vorgeschriebenen Riten ganz allein vollziehen ohne die stützende Kraft der Gemeinschaft? Oder sollten sich die Götter dieses Mal alle von ihnen geholt haben? Nein, das mochte sie sich lieber nicht vorstellen. Sie fühlte sich plötzlich unendlich allein. Sie hatte so viele Fragen. Und der Großvater war fort.
    Rianna war völlig erschöpft, als sie das Symbol ihres Stammes endlich erreichte. Auch hier sah sie niemanden. Ihr Wasserschlauch war so gut wie leer. Es war Abend geworden und die Stimmen der Nacht erhoben sich: Rascheln zwischen den Steinen, das Flüstern des Windes, der durch die Senke strich. Sie flehte zu den Feen, sie zu beschützen. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
    Sie hätte später nicht mehr sagen können, wie lang sie geschlafen hatte, als sich unter den geschlossenen Lidern in den beiden äußeren Augenwinkeln in allen Farben glitzernde Tautropfen zeigten. Sie versuchte, die Lider zu öffnen, doch es ging nicht. Nach einer Weile begann sich das Blau aus dem Schillern zu lösen, erst hell und durchscheinend, dann wurde es stärker und tiefer, schließlich Mitternachtsblau, bis es wieder verschwand. Es machte dem Grün Platz, erst zart, dann satt und smaragdfarben. Aus dem Grün entwickelte sich ein Rot, das zu Gelb wurde und schließlich zum wunderbaren Orange des Sonnenuntergangs. Sie ließ sich in dieses Orange hineinfallen. Es fing sie auf und wiegte sie sanft.
    III
    Der Implantator war bereits wieder fort. Er hatte keinen Verdacht geschöpft, dass hier etwas nicht so zuging, wie es zu sein hatte. Michael Peters schaute auf das schlafende Mädchen hinunter. Sie stöhnte wohlig. Also hatte der Implantator sie wohl nicht versehentlich verletzt. Das kam manchmal vor. Der verstand etwas von dem, was er tat. Er konnte das beurteilen, denn als Worldwatcher war er schon oft dabei gewesen, wenn einer Nazca-Jungfrau ein Embryo eingepflanzt worden war. Dieser wichtige Vorgang, bei dem es immerhin um die Zukunft seiner Rasse ging, fand immer unter Aufsicht statt. Bei den anderen Malen hatte es ihn interessiert, aber kaltgelassen. Doch dieses Mal war es etwas anderes. Es ging um sein eigenes Kind.
    Nun würde er das Mädchen auf die Kuppe des Hügels bringen, zur Quelle, neben der er auch ihren Großvater begraben hatte. Sie schlief, würde nichts davon spüren. Doch er war es ihr schuldig, sie zu dem Grab zu bringen, fand er. Auch wenn sie es nicht merken würde. Außerdem lag dort oben die Erdhöhle, in der er sich immer mit ihrem Großvater getroffen und ihn in Trance versetzt hatte, um die Drogendepots aufzufüllen. Von dort aus hatte er sie auch beobachtet. Sie hatte ihn nicht bemerkt, wie sie so dahingeschritten war, mit wiegendem, elastischem Schritt, die Aufmerksamkeit nach vorn

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