Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Wieder einmal traf ihn ihre Ähnlichkeit wie ein Schlag. Dieselben langen Glieder, weiß, ein wenig wie Tentakel, die schlanken Beine, die großen Füße, die riesigen kobaltblauen Augen - das war er. Jeder Außenstehende musste sie verwechseln. Doch wer sie nebeneinander sah, erkannte den Unterschied sofort, auch wenn er nicht greifbar war. Der Unterschied manifestierte sich über die Emotionen, die sie auslösten. Naomas wirkte - seelenlos. Niemand würde auf die Idee kommen, ihn lieben zu wollen. Obwohl er sich wahrscheinlich ebenso nach Liebe sehnte wie er selbst. Doch ihm selbst strömte die Zuneigung anderer zu, ohne dass er sich darum bemühen musste wie sein Bruder. Vielleicht war es das Tierhafte an ihm, das unbewusste Nachempfinden des langsamen Sterbens der Frau, die ihn getragen hatte, das dieses Gefühl ihm gegenüber in anderen auslöste. Auch wenn er sich natürlich an den Tod der Nazca-Frau nicht erinnern konnte, er hatte Spuren in dem hinterlassen, was sie das Wesen nannten. In Peters regte sich das schlechte Gewissen, legte sich aber sogleich wieder. Er hatte sich nicht ausgesucht, als Naturkind geboren zu werden. Keiner von ihnen beiden hatte sich sein Schicksal aussuchen können.
Naomas beobachtete ihn, in seinen Augen lag noch immer der Triumph. »Du hast es also tatsächlich getan. Ich dachte mir schon, dass du es tun würdest. Dir ist klar, dass ich das melden werde. Du hättest dem Mädchen deinen Embryo nicht einpflanzen dürfen. Das weißt du. Sie werden dich töten, aus den Annalen löschen. Und ich bin frei, endlich frei, mein eigenes Leben zu leben. Ich fand es übrigens sehr amüsant, mit anzusehen, wie du den Alten begraben hast. Ich muss schon sagen, du hast Mumm, Bruder.«
Peters benötigte eine Weile, bis in sein Bewusstsein gesackt war, was diese Worte bedeuteten. »Du hast den Druiden umgebracht.«
Naomas lachte. »Dich kann ich ja nicht umbringen, obwohl ich nichts lieber täte. Also musste ich dafür sorgen, dass du dich selbst ans Messer lieferst, wie es so schön heißt. Und bald, bald bin ich frei. Ist schade um das Kind und die Frau. Sie wäre eine gute Druidin geworden. Doch sie werden sie wohl ebenfalls töten. Vielleicht krepiert sie aber einfach auch nur hier in dieser Höhle mitsamt deinem Balg im Leib. Ich muss nur lang genug warten, bis ich dein Vergehen melde. Nun, gestorben wäre sie ja sowieso.«
Peters bemühte sich darum, den Strom der Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, der in ihm tobte. Er musste denken, nachdenken, Zeit gewinnen. »So sehr hasst du mich?«
»Ja, so sehr hasse ich dich. Du hättest dich bei mir bedient, gedankenlos, mich ausgeschlachtet, damit deine ach so kostbare Person noch ein wenig länger leben kann. Wie, glaubst du, fühlt es sich an, mit einer solchen Gewissheit zu leben? Jeden Tag kann es vorbei sein. Aber nun nicht mehr. Das ist für immer Vergangenheit.«
»Wie hast du es gemacht? Der Körperscanner konnte keinerlei Anomalien feststellen«, fragte er, während er den engen Schutzanzug öffnete. Er behinderte ihn zu sehr. Er musste einen Weg finden, den Bruder zu überwältigen, falls es nicht gelang, sich mit ihm zu einigen.
Naomas lachte erneut. »Weil es keine gab. Der Alte hat sich selbst umgebracht.«
»Aber wie, sag mir wenigstens, wie? Was hast du getan? Freiwillig war das sicherlich nicht.«
»Freiwillig, nein. Aber andererseits irgendwie doch. Dieser Weißdornbusch war es. Oder besser, die Essenz aus seinen Beeren. Ich habe dem Alten geholfen, einen Sud daraus herzustellen, der selbst den Teufel aus der Hölle holen würde. Zusammen mit der Drogendosis, die er per Fernbedienung von dir bekam, wurde ein tödlicher Cocktail daraus. Er ist übrigens selbst schuld. Ich hatte ihn gewarnt, dass er nicht zu viel davon nehmen dürfe. Doch ich fürchte, er hat damit herumexperimentiert, mehr genommen. Aber so sind sie, diese Tiere. Und wumm, hat er abgehoben. Sein Kreislauf hat so viel Glück, so viel schreckliches Lachen einfach nicht verkraftet.«
»Wieso hat er das gemacht? Er war ein für seine Rasse kluger Mann.«
»Ich habe ihm eingeredet, das würde ihn glücklich machen, seine Wahrnehmungsfähigkeit steigern und ihn bei genügender Übung dazu befähigen, in unsere Welt, in die Welt der Elfen, aufgenommen zu werden. Sie halten uns für Elfen und Beschützer, ist das nicht lustig?« Naomas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er war nichts als ein törichter alter Mann mit Wünschen, die weit über das
Weitere Kostenlose Bücher