Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Grün: die Blätter und später auch die herrlich schmeckenden Früchte des Weißdorns. Sie waren eine große Kostbarkeit. Jedes Jahr, kurz vor den großen Herbststürmen, feierten sie deshalb das Weißdornfest.
Niemand fragte sich, warum ausgerechnet dieser Strauch das große Feuer überstanden hatte. Der Weißdorn, das wusste ja jedes Kind, behütete die Häuser der Feen. Und solange der Weißdorn wuchs, würden die Feen die Welt der Stämme beschützen, dafür sorgen, dass es genügend Reptilien und Kleintiere gab, die die Männer jagen, und Quellen, aus denen sie Wasser schöpfen konnten. Und sie würden die Sonne am Himmel halten. Dafür brachten sie den Feen gern Opfer: jene Mädchen, die nicht von den Linien zurückkehrten.
Weder Rianna noch die anderen Mädchen wussten, wer von ihnen wiederkommen würde. Jede hoffte insgeheim, zu den Auserwählten der Götter zu gehören. Ihre Namen würden die Stämme noch in vielen Generationen kennen. Die Druiden ritzten sie in die Steine neben den Quellen und sangen das Lied der Erwählten zu jedem Weißdornfest. So wurden sie zu einem Teil der Ewigkeit.
Nur sie, sie konnte niemals zu den Erwählten gehören. Nicht, nachdem der Großvater verschwunden war. Druiden sind auf eine andere Weise erwählt, hatte er ihr auf ihre Frage hin erklärt, aber nicht näher darauf eingehen wollen. »Später, wir sprechen später darüber. Du bist noch nicht so weit für das letzte große Geheimnis, Kind, sei nicht traurig«, hatte er gesagt.
»Wenn das Schicksal dich auserwählen sollte, meine Nachfolgerin zu werden, bist du Priesterin und Königin deines Stammes, eine Erleuchtete, eine Lenkerin mit einer wichtigen Stimme im Rat der Stämme. Du wirst dich mit den Elfen treffen und ihre Botschaft zu deinen Leuten bringen. Das kannst nur du.«
»Aber Großvater«, hatte sie protestiert, »du hast doch einen Sohn mit deiner zweiten Frau. Franja ist noch jung, sie kann dir noch viele Kinder gebären.«
Er hatte den Kopf geschüttelt und nur gesagt: »Ich weiß, dass deine Zeit bald gekommen ist. Du musst schnell lernen. Mein Sohn ist noch zu jung für diese große Aufgabe. Seine Wahrnehmung ist noch nicht geschult.«
›Dass deine Zeit bald gekommen ist ...‹ Was sollte das heißen? Woher wusste er das? Er hatte auf diese Frage keine Antwort gegeben.
Großvater, wo bist du? Ihre Sinne strichen durch den Äther wie Tausende dünner Spinnenfäden, drifteten mit der Brise, doch sie konnte ihn nicht wahrnehmen. Hatten die Elfen ihn zu einem der Ihren gemacht, ihm den Tarnmantel umgelegt, damit niemand ihm folgen konnte? »Bitte, bitte nicht«, flehte sie. »Es ist noch zu früh für dich, für immer von uns zu gehen.«
Sie kehrte in die Höhle zurück und ging in den hinteren Teil, um zusammenzusuchen, was sie für die Wanderung zu den Linien benötigte. Etwas getrocknetes Schlangenfleisch, einige geröstete Käfer. Da fand sie die weiße Schwanenfeder des Großvaters. Sie war uralt und unendlich wertvoll, wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Sie stammte noch aus der Zeit vor dem alles vernichtenden Feuer. Als es noch den großen See gegeben hatte und darauf wunderbare weiße Vögel, die schwimmen konnten und stolz und stark waren. So stark, dass sie sich noch nicht einmal vor einem ausgewachsenen Nazca-Mann fürchteten, wenn sie ihre Brut verteidigten.
Früher, vor der Zeitenwende, hatten die Nazca Schwäne getötet und gegessen. Rianna schüttelte sich bei dem Gedanken. Kein Wunder, dass die Feen sie mit dem großen Feuer bestraft hatten.
Sie hielt inne. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie ganz plötzlich begriff: Der Großvater hatte nicht geplant wiederzukommen. Sonst hätte er die Feder nicht hiergelassen.
Rianna wartete noch einen weiteren Tag. Sie konnte einfach nicht anders, als auf die Rückkehr des Großvaters zu hoffen. Dann machte sie sich auf den Weg. Sie durfte nicht länger zögern. Die meisten ihrer Altersgenossinnen waren schon aufgebrochen. Sie selbst blutete nun schon drei Morgenröten lang, dabei hätte sie gleich nach dem Beginn der Blutungen zu den Linien gehen müssen.
Die Sonne brannte vom Himmel und versengte alles, was mit ihren Strahlen in Berührung kam. Rianna hatte einen Grashalmhut aufgesetzt und hoffte, dass es nicht allzu schlimm werden würde. Die hüftlangen dunkelbraunen Haare schützten ebenfalls. Sie trug ein Schlangenhautgewand, das an den Schultern verknotet war. An ihrem Gürtel hingen neben dem Messer ein Schlauch aus
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