Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
sei zu den Feen gerufen worden. Er habe eine Nachricht geschickt mit dem Befehl, ihr das auszurichten, und der Anordnung, nicht auf ihn zu warten. Sie solle sich ohne seinen Segen auf den Weg zu den Linien machen. Rianna konnte das nicht so recht glauben. Der Großvater war ein bedächtiger Mann. Als Druide und Priesterkönig des Stammes musste er das sein. Was er entschied, war Gesetz. Doch niemals, niemals im Leben würde er sie ohne den Abschiedssegen zu den Linien gehen lassen. Jeder wusste, dass es gefährlich war. Nicht alle der Mädchen kehrten zurück. Dennoch, sie mussten dorthin. Denn irgendetwas geschah dort, das sie zu Frauen werden ließ.
Keine der Rückkehrerinnen hatte jemals erzählt, was in der großen Senke der Linien geschah. Nur so viel: Dort waren riesige Menschenwesen mit langen Gliedern in den Boden eingeritzt. Es gab aber auch Wesen, die der Großvater Affen genannt hatte, andere hießen Vögel. Zu diesen Linien musste sie gehen. Sie war ein Mädchen des Vogelstamms.
Wo jetzt die Linien waren, hatte vor undenklichen Zeiten, zu Zeiten, an die sich niemand mehr erinnern konnte, ein riesiger See in der Sonne geglitzert. Wasser, das sich im Wind kräuselte, und donnernde Wellen, wenn die Stürme tosten. Welch wunderbare Vorstellung. Der Großvater hatte erzählt, dass die Stämme der Urzeit das große Wasser den Bodensee genannt hätten. Doch dann war das alles versengende Feuer gekommen und hatte das Wasser verbrannt. Dadurch waren die Linien auf dem Grund des Sees zum Vorschein gekommen. Es war ein heiliger Ort, der heiligste Ort der Stämme.
Der Großvater. Sie dachte voller Liebe an ihn. Er war ihr immer ein geduldiger Lehrer gewesen. Der Stamm hatte nach dem Tod der Eltern vor vielen Jahren entschieden, dass sie seine Nachfolgerin werden sollte. Aber nur, falls der Sohn des Großvaters mit seiner zweiten Frau bei seinem Tod noch nicht alt genug sein sollte, sein Erbe anzutreten. Jungen hatten immer den Vorrang vor Mädchen. Um sicherzugehen, hatte der Großvater schon Vorjahren begonnen, sie in das geheime Wissen einzuführen. Doch sie hatte das Gefühl, noch immer ganz am Anfang zu stehen. Sie hatte noch Jahre des Lernens vor sich.
Nur er und inzwischen auch sie selbst konnten die Zeichen auf den zehn Gesetzestafeln lesen, die ihnen die Elfen gebracht hatten. Was, wenn der Großvater nicht zurückkam? Wie sollte sie dann ihre Aufgabe erfüllen?
Rianna fürchtete sich. Sie streichelte die Blätter des Weißdorns und meinte, eine Bewegung in den Zweigen wahrzunehmen. Und ein Flüstern. Es klang wie die Stimme eines Kindes, wie das Gurren eines Säuglings, der zufrieden an der Brust der Mutter lag und trank.
Die große Karstebene, auf die sie blickte, war von runden Hügeln durchzogen, in denen die Höhlen der Hegau-Stämme lagen. Jeder Clan hatte eine eigene. Der Großvater hatte ihr einmal erzählt, die Hügel seien vor urdenklichen Zeiten Feuer speiende Drachen gewesen, die sich schließlich in Stein verwandelt hätten. Ihr Stamm lebte auf halber Höhe des Twil.
Die Bergkuppen waren den Elfen vorbehalten. Nur die Druiden und deren Schüler durften dort hinauf. Das war jedoch nicht immer so gewesen. Erst unlängst hatten ihr Großvater und sie wieder einige Steine dort gefunden, die von einer Besiedlung lange vor der Zeit kündeten, in der die Elfen gekommen waren, um die Stämme vor dem Untergang zu retten. Sie hatte staunend und andächtig die sauber behauenen Kalksteinquader betastet und ihrem Großvater zugehört, der von einer Welt erzählte, in der hier alles noch grün gewesen war.
Heute wuchsen ausschließlich kleine Weißdornsträucher auf den Kuppen. Die Regenstürme, die in jedem Frühjahr und Herbst über dem Land wüteten, schwemmten die Steine kahl und hinterließen nur noch Öde, einen karstigen Boden, auf dem kaum noch etwas wuchs. Nur einige Kräuter, wenige Grashalme, essbare Wurzeln schafften es, sich dort festzukrallen. Die sammelten sie, davon ernährten sich aber auch die Insekten und Würmer, die sie über dem Feuer rösteten.
Im Winter folgten nach den Regen- die Schneestürme. Das Land fiel unter einer Schicht aus Eis in den Winterschlaf. Im Verlauf des Frühjahrs und des Sommers begannen die Gräser und Kräuter zu vertrocknen. Unter der sengenden Sonne verdorrte alles Leben. Nur an manchen Stellen, an Stellen wie diesen, an denen es eine Quelle gab, sowie den Orten, an denen die Feen in diese Welt gekommen waren, zeigte sich im Hochsommer noch vereinzeltes
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