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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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davon, ploppte erneut gegen das Fenster und kehrte zurück. Diesmal suchte sie sich Hertha als Zielobjekt aus. Das Insekt schwirrte erst vor deren Nasenspitze herum, dann vor Herthas Augen, aber die alte Dame blieb stocksteif stehen. Sie rührte sich nicht einmal, als das Wespengetier sich ihre Schulter als Landeplatz aussuchte und darauf herumkrabbelte.
    Das hier war High Noon! Der Höhepunkt eines Krieges, den die beiden Frauen seit drei Jahren miteinander ausfochten und der nun endlich den Punkt erreicht hatte, welcher die Entscheidung bringen sollte. Die, die zuerst den Blick senkte, etwas sagte, den Kampfplatz verließ oder sich gar niedersetzte, war die Verliererin und würde sich bis auf Weiteres dem Regime der Gewinnerin unterordnen müssen.
    Noch war keine der beiden zur Kapitulation bereit, auch wenn die Gliedmaßen zu kribbeln begannen und sich im Rücken ein leichter Schmerz bemerkbar machte.
    Die Wespe flog erneut fort, aber nur, um einen Bogen zu schwirren und dann direkt auf Herthas Mund zuzubrummen. Dort flog das Insekt aufgeregt vor Herthas zusammengepressten Lippen herum, was sicher unangenehm war. Doch die alte Dame zuckte nicht mal mit der Wimper.
    Ihre starre Haltung veranlasste die Wespe dazu, sich an Herthas linkem Mundwinkel niederzulassen. Dort beschnupperte die Wespe interessiert die Umgebung. Ihr gelbschwarz gestreiftes Hinterteil wippte dabei aufgeregt auf und ab.
    Plötzlich, so unverhofft, dass Ellen erschreckt zusammenzuckte, schlug Hertha mit der flachen Hand zu. Das tote Tier blieb einen Moment an ihrem Handteller kleben, dann fiel es zu Boden, wo es direkt vor Herthas Füßen liegen blieb.
    Nun herrschte absolute Stille im Zimmer. Bewegungslos standen sich die beiden Erzfeindinnen gegenüber, jede wartete darauf, dass die andere es nicht mehr aushielt und sich bewegte.
    Ellen versuchte, sich mit Gedanken an den nächsten Urlaub abzulenken, den sie diesmal ohne Schwiegermutter verleben wollte, sofern sie diesen Kampf gewann. Im Geiste spazierte Ellen schon Hand in Hand mit Mark-Dennis am Strand von Lloret de Mar entlang, über ihnen ein klarblauer Himmel, unter ihnen der heiße Sand, der zwischen den Zehen kitzelte. Schließlich blieben sie stehen, küssten sich ...
    Ein seltsamer Laut zerriss den schönen Tagtraum. Ellen riss die Augen auf und starrte Hertha an, deren Gesicht plötzlich seltsam verändert schien. Es sah komisch aus, irgendwie asymmetrisch - wobei die linke Seite ungefähr doppelt so breit erschien wie die rechte. Das Auge war bereits so aufgequollen, dass es wie eine überdimensionale stilisierte rosa Walnuss aussah. Oder wie ein kleiner Football.
    Beide Hände an den Hals gelegt, taumelte Hertha zum Bett und fiel darauf nieder. Ihre Lippen waren bläulich verfärbt und während Ellen reglos dastand und sie anstarrte, breitete sich diese Verfärbung allmählich um die gesamte Mundpartie aus. Zugleich öffnete sich dieser Mund und ein komisches rotes Ding quoll daraus hervor. Es sah total merkwürdig aus, einem Schwamm nicht unähnlich, feucht und glänzend, riesig...
    Herthas Zunge! Die Erkenntnis ließ Ellen erschauern. Nur Sekunden später begriff sie endlich, dass ihre Schwiegermutter in höchster Lebensgefahr schwebte. Was auch immer die Schuld daran trug, das kranke Herz oder die Wespe, Hertha würde ersticken, wenn Ellen nicht schnellstens den Rettungsdienst rief. Diese Einsicht löste endlich die Starre. Ellen wirbelte herum, rannte zur Tür und nach nebenan ins Wohnzimmer, wo das tragbare Telefon lag. Ihr folgte Herthas Röcheln und Rasseln, das jeden mühsamen Atemzug begleitete. Grausame Töne, die Ellen das Nackenhaar sträubten und eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken und die Arme jagten.
    Sie riss das Handy an sich, tippte die erste Ziffer des Notrufs ein und erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Blick haftete an der gegenüberliegenden Wand, während ihr Zeigefinger über den Tasten schwebte. Aber sie sah weder die gemusterte Tapete noch das scheußliche Bild, das Hertha dort aufgehängt hatte. In Ellens Kopf wisperte ein Stimmchen, leise, ja, aber unheimlich verführerisch, beschwörend, schließlich so zwingend, dass sie ihm einfach zuhören musste.
    Es ist doch ganz einfach, flüsterte das Stimmchen lockend, wenn du jetzt die Nerven behältst und einfach abwartest, dann bist du in wenigen Minuten all deine Sorgen los.
    Aber das kann ich doch nicht tun!, protestierte Ellens Gewissen. Das ist Mord!
    Nein, es ist unterlassene

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