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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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Marie hinter der Bühne, während sie rasch die Falten des schweren grünen Seidenkleides der Schauspielerin ordnet und ihr mit der Puderquaste über die Wangen fährt. Adrienne ist glücklich. Noch nie hat sie die ›Phädra‹ so gespielt wie heute, an diesem Märztag des Jahres 1730. Das Publikum in der ausverkauften Vorstellung von Racines beliebtestem Theaterstück hat sich jetzt gesammelt erhoben und die Ovationen und Bravo-Rufe wollen kein Ende nehmen. Adrienne ist wie berauscht, als sie erneut ins Rampenlicht tritt. Wieder und wieder sinkt sie in einen tiefen Knicks, streckt die Arme dem Publikum entgegen, fängt Rosen und duftende Bänder mit kleinen Billets auf, Einladungen und zahlreiche Liebeserklärungen ihrer Verehrer.
    »Bravo!«, ruft jemand vernehmlich aus einer luxuriösen Seitenloge im ersten Rang. »Bravo!«
    Adrienne wendet den Kopf und ihr Blick trifft den eines gutaussehenden Mannes in Galauniform, der aufrecht an der Brüstung seiner Loge steht und ihr bewundernd applaudiert.
    »Der Marschall von Sachsen«, flüstert ihr Marie zu, als sie hinter die Bühne zurückkehrt. »Haben Sie gesehen, wie hingerissen er von Ihnen ist? Seine Geliebte, die Herzogin von Bouillon, wird vor Eifersucht rasen.« Sie kichert, und als Adrienne wieder die Szene betritt, streift sie ihren Bewunderer zwischen zwei Verbeugungen mit einem flüchtigen Blick. Graf Moritz, Marschall von Sachsen, dem der Ruf vorauseilt, nicht nur ein Kriegsheld, sondern auch ein unwiderstehlicher Verführer zu sein, steht neben einer üppigen, schönen Frau, die seine Begeisterung nicht besonders zu teilen scheint. Übermütig zieht er eine Rose aus dem an der Loge befestigten Bouquet und wirft sie der Schauspielerin zu. Adrienne fängt sie auf, lächelt zu den beiden empor und dankt mit einem leichten Neigen des Kopfes.
    Hinter der Bühne herrscht geschäftiges Treiben und lautes Hin und Her. Ein Bote gibt Blumen, Briefe und Glückwünsche ab und Marie weiß wie jeden Abend nicht, wo sie beginnen soll. Sie sperrt die Tür zur Garderobe ab und reicht Adrienne als Erstes das gewohnte Glas Rosenwasser. Dann befreit sie sie von ihrer schweren schwarzen Perücke und ordnet die blonden Locken, die darunter zum Vorschein kommen.
    »Danke, Marie«, die Schauspielerin steckt sich lächelnd die Rose des Marschalls von Sachsen ins offene Haar, »wenn ich dich nicht hätte!«
    Marie nickt stolz. Sie bewundert nicht nur die Kunst ihrer Herrin, sondern auch deren engelhafte, zarte Schönheit mit den blauen, ausdrucksstarken Augen und dem makellosen Teint. Draußen gibt es Tumult, sie muss einschreiten. Blumen werden abgegeben, etliche Verehrer wollen sich gewaltsam Eintritt in die Garderobe der Schauspielerin verschaffen und ein Diener in Livree wünscht eine dringende Botschaft zu übergeben.
    »Mademoiselle!« Maries helle Stimme klingt aufgeregt und sie schwenkt eine Karte mit goldenem Emblem. »Sehen Sie nur, welche Ehre! Die Herzogin von Bouillon bittet Sie in ihre Loge!«
    Adrienne schüttelt den Kopf und betrachtet die großzügig geschwungenen Zeilen der Einladung. »Ich bin müde. Lass Ihrer Hoheit bitte ausrichten, ich sei noch nicht angekleidet.«
    »Aber die Herzogin - sie ist die einflussreichste Dame am Hof des Königs ...«
    »Geh, ich kann jetzt wirklich nicht!«
    Enttäuscht zieht Marie ab. Doch als Adrienne wenig später durch den hinteren Bühnenausgang tritt, versperrt ihr eine prächtige, wappenverzierte Kutsche den Weg. Der Marschall von Sachsen, an der Seite der Herzogin von Bouillon, öffnet den Schlag und springt heraus. »Sie waren hinreißend, Mademoiselle! Ich bewundere Ihr großes Talent!«
    Adrienne hält den Atem an bei seinem strahlenden Blick aus stahlblauen Augen. Er trifft sie mitten ins Herz. Ihm scheint es nicht anders zu gehen und so sehen sie einander unverwandt an. Er ergreift ihre Hand und küsst sie.
    »Sie spielen wunderbar, einfach göttlich«, murmelt er und Adrienne, von seiner Berührung und den schmeichelhaften Worten verwirrt, versucht, ihre Fassung zu bewahren.
    »Ich danke Ihnen, Graf.« Adrienne entzieht ihm gewaltsam ihre Hand, die er vergisst loszulassen. Auf einen Wink der Herzogin tritt sie näher, bis ans Fenster der Kutsche heran. »Wir wollten Ihnen persönlich gratulieren, Mademoiselle«, beginnt diese ein wenig von oben herab, »zu Ihrem recht netten Bühnenerfolg!«
    Adrienne dankt höflich, erkennt aber am eifersüchtigen Aufblitzen in den Augen der Herzogin, dass diese in ihr eine

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