Bitteres Geheimnis
Priester, der die Werte, die ihm ehemals etwas gegolten hatten, aus den Augen verloren hatte.
Warum, Herr, dachte er mit Bitterkeit, muß ich gerade jetzt an diese Dinge denken?
Er wußte, warum. Mary Ann McFarland war schuld daran.
Pater Crispin ging müde zu einem der Ledersessel und ließ sich hineinfallen. Er starrte in den großen gemauerten Kamin, der nur Attrappe war, und dachte: Ich hätte das heute abend nicht tun sollen. Ich hätte nicht einfach aus dem Beichtstuhl gehen dürfen. Ich habe das Mädchen im Stich gelassen.
Den ganzen Abend schon war ihm die Begegnung im Kopf herumgegangen. Mary war zur Beichte zu ihm gekommen und hatte eine Liste harmloser kleiner Sünden vorgetragen - daß sie am Freitag Fleisch gegessen, daß sie Gottes Namen missbraucht, ihr Abendgebet vergessen hatte -, doch die eine große Sünde, auf deren Geständnis Pater Crispin wartete, die hatte sie nicht erwähnt. Als er sie gedrängt hatte, hatte sie ihm widersprochen - in seinem Beichtstuhl! -, und er hatte schließlich das Fenster zugeschlagen und sich dem nächsten Beichtkind zugewandt. Als er danach zur anderen Seite zurückgekehrt war, hatte er wieder Marys beteuerndes Flüstern vernommen. Zum zweiten mal hatte er sich von ihr abgewandt, nachdem er sie ermahnt hatte, ihre Seele zu erforschen und erst dann in den Beichtstuhl zurückzukehren, wenn sie bereit war, sich zu ihrer Sünde zu bekennen. Wieder hatte sie ihm widersprochen, und eigensinnig hatte sie ihre Unschuld beteuert. Und er, ihr Beichtvater, hatte sich von seinem Zorn zur Unbeherrschtheit hinreißen lassen, war aufgestanden und davongegangen, ohne sich weiter um sie zu kümmern.
Er trank einen Schluck von seinem Whisky, aber er schmeckte ihm nicht.
Warum? Warum macht sie es mir so schwer? Er schlug mit der Faust auf die Armlehne des Sessels. Wenn sie nur nicht so klar und vernünftig gewirkt hätte. Wenn er nur hätte glauben können, daß sie wahrhaftig seelisch labil war - ein Fall für den Psychiater - und nicht schlicht und einfach log. Aber er konnte es nicht riskieren, sich damit zu beschwichtigen. Es ging um ihre Seele.
Jonas Wades wahnwitzige Theorie konnte er nicht glauben, durfte er nicht glauben. Um seiner Religion willen. Wenn diese sogenannte >spontane Parthenogenese< einem Teenager aus Tarzana widerfahren konnte, was war dann mit der Jungfrau Maria, die vor zweitausend Jahren Jesus Christus geboren hatte? Sollte die katholische Kirche, der Glaube von Millionen auf einer Laune der Natur gegründet sein?
Pater Crispin ließ sich neben seinem Sessel auf die Knie fallen, stellte das leere Glas weg und senkte den Kopf, um zu beten.
Pater Crispin war tief in Gedanken, während die Ministranten ihm in der Sakristei beim Ankleiden halfen. Die Jungen glaubten, der Priester ginge in Gedanken noch einmal seine Predigt durch, während er sich schweigend zuerst die Hände wusch, dann das Humerale von ihnen entgegennahm, es küßte und sich um die Schultern legte. Er scherzte nicht mit ihnen, wie er das sonst zu tun pflegte.
Pater Crispin hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Seine Stimmung war gedrückt. Wie sollte er mit Mary Ann McFarland umgehen? Ihre Eltern waren absolut überzeugt von diesem wissenschaftlichen Blödsinn. Und wie leicht sie zu überzeugen gewesen waren; wie schnell bereit, sich beschwichtigen und beruhigen zu lassen. Warum glaubten sie Wade und nicht Crispin? Warum waren sie so eifrig darauf bedacht, das Mädchen freizusprechen?
Pater Crispin nahm die Albe und zog sie sich über den Kopf.
Entweder das Mädchen log, oder es war geistig nicht gesund. Doch wie sollte man das herausfinden! Geistige Verwirrung konnte toleriert werden, aber bewußte Unterschlagung einer Todsünde nicht. Um Marys Seele willen mußte Pater Crispin die Wahrheit herausfinden.
Mary hob den Kopf und sah sich in der Kirche um. Sie war so voll, daß die Leute stehen mußten. Die meisten hatten sich schon ins Gebet versenkt.
Als Pater Crispin und die Ministranten aus der Sakristei kamen, stand die ganze Gemeinde auf. Er wandte sich ihnen zu und segnete sie. Alle bekreuzigten sich.
Während des ganzen Gottesdienstes versuchte Mary, sich auf das Wunder der Messe zu konzentrieren. Sie hatte früher nie darüber nachgedacht, sich nie klargemacht, daß in dieser einen Stunde Jesus Christus inmitten der Gläubigen noch einmal den ganzen Zyklus seines Lebens und Sterbens von der Fleischwerdung bis zur Himmelfahrt durchlief.
Pater Crispin hatte Mühe,
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