Bitteres Rot
der einschlagenden Bomben zu hören. Gerade noch rechtzeitig erreichten sie den Schutzkeller. Die erste Runde in diesem Spiel auf Leben und Tod war überstanden.
Wie könnt ihr verlangen, dass wir unser Leben im Kampf gegen die Deutschen riskieren, wenn ihr hinterher Bomben auf uns werft?
Sie war anders als ihr Bruder, der schon beim ersten Heulton hellwach war. Wieder einmal war es die scheinbar unerschöpfliche Energie ihrer Mutter gewesen, die sie wachgerüttelt, ihr Kraft und neuen Lebensmut gegeben hatte. Obwohl sie selbst am Ende ihrer Kräfte war, versuchte sie alles, um das Leben ihrer Kinder zu retten. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Tochter sich aufgab. Tilde wollte ihre Mutter nicht enttäuschen oder ihr gar wehtun. Was konnte sie schon für das Unglück ihrer Tochter? Ihre Eltern hatten Tag und Nacht geschuftet, nur damit die Kinder überleben konnten.
|67| »Hallo, wo sind wir denn gerade,
Signorina
?« Iolanda schien ihre Verzweiflung zu spüren.
»Kennst du den Hauptmann?«, fragte sie zurück und wurde rot. Dabei schämte sie sich nicht für das, was auf sie zukam, dafür aber für ihre Schwäche, wenn sie an die Vergangenheit dachte. Die Erinnerungen waren eine Qual, nicht weniger grausam als Hunger oder Armut.
Iolanda wusste nichts von alledem und musterte sie voller Mitgefühl. »Tilde, darf ich dich etwas fragen?«
Sie nickte verlegen, erstaunt über die Wärme und Zärtlichkeit in der Stimme der fremden Frau.
»Ist es das erste Mal?«
Sie wollte verneinen, doch der Drang, sich dieser Frau zu offenbaren und ihr die Wahrheit zu sagen, war stärker.
»Ja.« Sie wurde wieder rot.
Iolanda beugte sich nach vorne und drückte Tildes kalte Hand, dabei lächelte sie.
»Es klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber du hast Glück. Hessen ist anders als die anderen. Ein sympathischer Mann, von der Uniform einmal abgesehen.«
Ihre Worte machten Tilde Mut. »Warst du schon mal mit ihm aus?«
Iolanda schüttelte den Kopf. »Aussuchen darf ich mir die Männer leider nicht.«
»Es ist eben Krieg, Iolanda.« Warum hatte sie das gesagt?
Iolanda zog geistesabwesend an ihrer Zigarette und blies den Rauch in kleinen Ringen wieder aus. »Ja, der Krieg. Vielleicht zeigen wir da unser wahres Gesicht.«
»Was meinst du damit?«
»Ach nichts. Wie war das mit den Schuhen? Welche Größe hast du?«
»Achtunddreißig, glaube ich.«
»Zeig mal her.«
|68| Tilde stand auf und ging zu ihr hinüber. Iolanda drückte ihre Zigarette in der Tasse aus, beugte sich nach unten und zog Tilde vorsichtig einen Schuh aus. Dann schlüpfte sie selbst hinein. Sie bewegte den Fuß hin und her.
»Passt, achtunddreißig dürfte stimmen. Ich besorge dir ein Paar.«
Dann gab sie ihr den Schuh zurück und schlüpfte wieder in ihre Pantoffeln. Tilde hätte sie am liebsten umarmt, beherrschte sich aber.
»Iolanda, warum tust du das?«
Die Frau zögerte einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich genieße das Leben, das ist meine Welt. Aber ich bin Italienerin, für meine Landsleute tue ich alles.«
Eine seltsame Frau. Die ganze Woche über musste Tilde an sie denken. Sie glaubte verstanden zu haben, warum sie von den Deutschen und den Partisanen gleichermaßen geschätzt wurde. Beiden gab sie das, was sie wollten: den einen ihren Körper, den anderen Informationen. Und Iolanda gab gerne, sie war großzügig.
Vielleicht hatte Iolanda auch Mitleid mit ihr gehabt, weil sie fast noch ein Kind war. Sie hatte Wärme, Kaffee und ihre Kleidung mit ihr geteilt, um ihr das Beste zu geben, was sie hatte, und nicht, um ihr zu zeigen, welche Privilegien sie genoss. All das machte ihr diese Frau sympathisch, bei ihr fühlte sie sich geborgen.
Die Tage vergingen. Dass diese einzigartige Frau in ihrer Nähe sein würde, machten ihr die Gedanken an das Fest in der Deutschen Kommandantur leichter und sie spürte sogar etwas wie Vorfreude.
Als Dolores in der Mittagspause giftete, diese Hure würde eines Tages tot in der Gosse liegen, wurde Tilde wütend: »Was weißt du denn schon? Kennst du sie überhaupt?«
|69| »Warum? Kennst du sie?«
Tilde musste vorsichtig sein, sie durfte sich nicht verraten. Dazu war der Auftrag zu wichtig. Aber irgendwie musste sie Iolanda auch verteidigen, das hatte sie verdient.
»Es heißt, sie sei eine sehr großzügige Frau.«
»Tatsächlich?«, spottete Dolores und klatschte in die Hände. Dann hielt sie inne. »Großzügig zu den Deutschen, ja, das stimmt, aber zu uns?«
»Was
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