Bitteres Rot
Festnetzanschluss im Westen der Stadt. Kaum hatte ich abgenommen, fragte eine aufgeregte Frauenstimme: »
Dottor Pagano?«
»Ja.«
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin die Tochter von Enrico Parodi. Ich rufe im Namen meines Vaters an. Als ich heute wie üblich zu ihm kam, war er völlig aufgelöst, ganz außer sich. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich begriffen hatte, um was es ging.«
»Hat Olindo Grandi ihn angerufen?«
|58| »Ja, und er hat gesagt, dass Sie ihn besuchen wollen.«
»Und das hat ihn so aufgeregt?«
»Wissen Sie, als mein Vater zu den Partisanen in die Berge gegangen ist, da war er fast noch ein Kind. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen, er ist nicht sehr belastbar.«
»Das tut mir leid. Grandi hat mir seinen Namen genannt«, unterbrach ich sie.
»Sie wissen doch, wie diese alten Menschen sind. Sie können sich an jedes Detail aus der Vergangenheit erinnern, aber dass ein Freund mit den Nerven am Ende ist, das haben sie vergessen.«
»Verstehe ich Sie richtig? Ich soll Ihren Vater in Ruhe lassen?«
»Es fällt mir nicht leicht, Sie darum zu bitten. Unsere Eltern waren immerhin gute Freunde. Aber ich mache mir Sorgen um die Gesundheit meines Vaters.«
»Schon gut. Vielleicht kann Grandi mir noch andere Namen nennen.«
»Wirklich?« Sie schien überrascht, als hätten wir bisher nur übers Wetter gesprochen.
»Ich will Ihren Vater nicht überfordern. Als alter Freiheitskämpfer hat er seine Ruhe verdient.«
Sie lachte übertrieben, fast hysterisch.
»Wie sind Sie eigentlich an meine Handynummer gekommen?« Ich wechselte das Thema.
»Das war gar nicht so einfach. Ich habe im Telefonbuch nachgesehen und bei Ihnen im Büro angerufen. Die Signora hat sofort begriffen, dass ich dringend mit Ihnen sprechen muss, und mir freundlicherweise Ihre Nummer gegeben.«
Wieder einmal hatte Zainab ihre Kompetenzen überschritten. Wann sah sie endlich ein, dass sie nicht meine Sekretärin, sondern meine Putzfrau war?
|59| »Hören Sie, darf ich Ihre Geduld noch etwas strapazieren?«
»Aber selbstverständlich.«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
Schweigen. So etwas fragt man eine Dame nicht, schon gar nicht am Telefon.
»Achtundfünfzig.« Die Antwort kam zögernd. »Warum fragen Sie?«
»Kennen Sie eine Frau namens Nicla, etwa im Alter Ihres Vaters?«
Erneutes Schweigen. Sie schien nachzudenken. »Ich kannte eine Nicla aus Panigaro, sie hatte einen Marktstand auf der Piazza dei Micone. Aber die ist seit zwanzig Jahren tot.«
»War sie verheiratet? Kinder?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, so wie die aussah. Einen Mann und Kinder hatte sie mit Sicherheit nicht. Sonst hätte sie den Stand bestimmt nicht an die Tochter ihres Bruders vererbt. Die Nichte betreibt den Stand heute noch.«
»Erinnern Sie sich vielleicht an eine Nicla aus Sestri, verheiratet, Mutter eines Sohnes, der heute etwa in Ihrem Alter sein müsste?«
Wieder Stille. Wieder schien sie in die Vergangenheit einzutauchen.
»Nein«, antwortete sie mit fester Stimme.
»Darf ich Ihnen noch eine allerletzte Frage stellen?«
»Nur zu! Aber denken Sie bitte daran, dass ich gerade die Telefonrechnung meines Vaters strapaziere.«
»Oh, wie unhöflich von mir. Kann ich Sie gleich zurückrufen?«
»Natürlich.« Sie wirkte zufrieden und nahm sofort ab, nachdem es geklingelt hatte. Im Hintergrund konnte ich ihren Vater murren hören.
|60| »Warum hat mein Anruf Ihren Vater so nervös gemacht? Selbstverständlich müssen Sie nichts dazu sagen, wenn Sie nicht wollen, aber es wäre wirklich interessant für mich, mehr über den Grund zu erfahren.«
»Das wüsste ich auch gerne.« Ihre Antwort wirkte aufrichtig.
»Was halten Sie von folgendem Vorschlag? Sie sprechen noch einmal in aller Ruhe mit Ihrem Vater und rufen mich dann an. Vielleicht kann er sich doch noch erinnern. Das würde mir weiterhelfen.«
»Das will ich gerne versuchen.«
Danach verabschiedeten wir uns und ich legte auf.
Pertusiello hatte aufmerksam zugehört. Irgendetwas an dem Gespräch hatte ihn beunruhigt.
»Was zum Teufel treibst du da? Stocherst du jetzt in der Vergangenheit unserer Widerstandskämpfer herum?«
»Ich habe einen neuen Klienten, der mich beauftragt hat, noch einmal im Familienalbum zu blättern.«
»Das ist doch alles schon eine Ewigkeit her. Pass nur auf, dass du keine schlafenden Hunde weckst.«
»Ich bin seit Jahren das erste Mal wieder in Sestri Ponente gewesen. Habe ich dir eigentlich jemals erzählt, dass meine Mutter
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