Bitteres Rot
wieder in Deutschland.
Ich rauchte und starrte ins Nichts. Die Zeit verging. Die Worte der Frauen über Jasmines Schicksal hatten sich in meine Gedanken gebrannt, ich wurde sie einfach nicht los. Ich kam mir vor wie ein gehetztes Stück Wild. Schließlich zwang ich mich, die Pfeife in den Aschenbecher zu legen, ich musste unbedingt schlafen. Obwohl ich wusste, dass der viele Alkohol mich beim Aufwachen mit hämmernden Kopfschmerzen strafen würde. Aber das war mir egal. Es war ohnehin nur der letzte Rest Vernunft, der mich davon abhielt, jeden Abend bei Tony abzustürzen.
Ich träumte. Gemeinsam mit meinem Großvater Baciccia stand ich auf einem kleinen Platz. Um uns herum Ruinen und Trümmerhaufen, wahrscheinlich Überbleibsel |124| des Krieges. Vor uns eine Mauer mit einem geschlossenen Gittertor. Ein großer Lastwagen wartete, dass sich das Tor öffnen und ihn einlassen würde. Mein Großvater nahm mich auf den Arm, damit ich besser sehen konnte. Auf der Ladefläche des Wagens waren breite vergitterte Fensteröffnungen zu sehen. Aus den Geräuschen, die nach außen drangen, schloss ich, dass es ein Tiertransport war. Ich schaute durch ein Eisengitter. Im Inneren des Wagens drängten sich nackte Frauen, die auf dem mit Streu bedeckten Boden herumkrochen. Sie wirkten gehetzt und ich ahnte, dass sie den Geruch das Schlachthofs witterten. In diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wir standen vor der Ca’ de Pitta, dem städtischen Schlachthof. Unter den Frauen waren Lara und Hoogy. Auch Jasmine erkannte ich. Ihr Blick irrte verstört umher, die Augen weit aufgerissen, voller Panik. Im Gewirr der nackten Leiber fiel mir eine Schönheit mit olivenfarbener Haut auf, die rabenschwarzen Haare zerzaust. Sie starrte durch die Gitterstäbe und sagte: »Ciao, Baciccia.« Ihr leerer Blick war auf meinen Großvater gerichtet.
»Was machst du hier?«, fragte er. Seine Stimme schien von weit her zu kommen.
»Ich bin eine Nutte und bin nicht gut für deine Liebe«, antwortete die Frau resigniert.
Das Tor öffnete sich und der Lastwagen fuhr an. Ich sah, wie mein Großvater zusammenzuckte und sich aus seiner lähmenden Starre zu befreien suchte.
»Nein«, schrie er und klammerte sich an die Eisenstäbe, sodass ich gegen das Gitterfenster gepresst wurde, »ich werde dich retten, Nicla, das schwöre ich dir …«
|125| Die Hinrichtung
Sestri Ponente, März 1944
Dieser Tag war von Anfang an schrecklich gewesen. Selbst die Sonne war fahl und leblos und spendete keine Wärme. Tilde wusste nicht, wann es passieren würde und wen Grandi dafür ausgewählt hatte. Aber die Angst ließ ihr keine Ruhe, sie spürte, dass die Entscheidung nahte. Seit zwei Wochen schienen die Nächte endlos zu sein. All ihre Gedanken drehten sich um Iolanda, der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Was tun? Sie konnte sich nicht entscheiden. Die Gefährten verraten, die ihr vertrauten, oder die Frau, die zu ihr gehalten hatte? Die Gefährten zu betrügen hieße die Achtung ihres Vaters und die Liebe ihres Verlobten zu verlieren. Iolanda zu warnen wäre eine Entscheidung des Herzens, aber auch das Eingeständnis ihrer Schwäche.
Warum warteten sie nur so lange? Tilde wusste, dass die GAP versucht hatte, mit ihren Guerillaaktionen und Sabotageakten dem Streik am 1. März Nachdruck zu verleihen. Die Straßenbahnlinie 16 war lahmgelegt, die Widerstandskämpfer hatten die Gleise vermint. Jemand hatte ihr erzählt, dass Grandis Männer Ende Februar in einer nächtlichen Aktion deutsche Waffen erbeutet und |126| diese an einem sicheren Ort außerhalb der Stadt versteckt hatten. Zwei Offiziere der Guardia Repubblicana waren am helllichten Tag erschossen worden, als sie gerade ein Friseurgeschäft in der Via Mazzini verließen. Die beiden Attentäter waren blutjung, sie hatten sich ganz unauffällig unter die Menge gemischt. Als die Deutschen eintrafen, waren sie wie vom Erdboden verschluckt. Der groß angekündigte Streik allerdings war ein Reinfall gewesen. Bei Fossati hatten sich nur wenige dem Ausstand angeschlossen, das Scheitern stand den Arbeitern in die düsteren Gesichter geschrieben.
Dann war etwas geschehen, das auch das letzte Fünkchen Hoffnung auslöschte. Die Nachricht war gegen zehn Uhr morgens eingetroffen und hatte sich wie ein Lauffeuer in der Kantine verbreitet. Tilde war gerade dabei, Kohl, Zwiebeln und Rüben für den mit Wasser gestreckten Gemüsereis zu schneiden, die Standardmahlzeit der Arbeiter in der
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