Bitteres Rot
Mittagspause. In der Nacht hatten die Brigate Nere Liliana auf der Straße zum Monte Gazzo festgenommen. Dieses Mal auf eigene Faust, ohne die Deutschen vorher zu verständigen. Sie hatten sie in die Questura gebracht, seitdem hatte man nichts mehr von ihr gehört. Liliana hatte Tildes Aufgabe als Kurierin übernommen.
Am nächsten Morgen war Tilde mit dem sicheren Gefühl zur Arbeit gegangen, dass der Vollzug des Urteils unmittelbar bevorstand. Die Nachricht über die Hinrichtung der Verräterin würde nicht, wie bei Lilianas Festnahme, hinter vorgehaltener Hand verbreitet werden. Iolandas Hinrichtung wäre ein Triumph, sie würde ein Zeichen setzen. Und das würde Tilde nur noch mehr schmerzen.
Der schwere Wagen hatte Iolanda an der Piazza Oriani abgesetzt und dann gewendet, um zur Kommandantur zurückzufahren. Das Dunkel der Nacht wich einem |127| fahlen Morgengrauen, über den Hausdächern der alten Mönchsstiege konnte man einen ersten blassen Schimmer am Himmel ausmachen. Ein kalter Tag ohne Sonne kündigte sich an. Selbst zu dieser frühen Stunde lag der Rauch aus den Fabrikschloten in der Luft, den Eisenstaub konnte sie sogar auf der Zunge spüren. Sie hatte viel getrunken, was es ihr leichter gemacht hatte, mit dem feisten S S-Offizier zu schlafen, der schon lange nach ihr gierte. Sie fühlte sich leer, müde und ausgebrannt. Ein Opfer für all den Luxus, die teuren Kleider und den Schmuck. War es das wert? Wog es das auf, was sie durchmachen musste? Sie könnte fliehen und mit den Widerstandskämpfern in die Berge gehen. Aber im Augenblick war sie zu erschöpft, um über einen Ausweg nachzudenken. Sie musste unbedingt schlafen. In zwei Stunden musste sie schon wieder ins Büro. Die Straße war menschenleer, nur das Klappern ihrer hohen Absätze auf dem Asphalt war zu hören. Gleich war sie zu Hause.
Plötzlich hörte sie Geräusche hinter sich, eilige Schritte, angestrengtes Atmen. Jemand war hinter ihr her. Ein Dieb? Sie presste instinktiv die Handtasche an ihre Brust. Dann drehte sie sich um. Sie sah einen hochgewachsenen jungen Mann mit straff nach hinten gekämmten blonden Haaren, der hastig die Straße überquerte. In der rechten Hand hielt er eine Pistole. Ein deutsches Modell. Er war fast noch ein Kind, selbst mit gezogener Waffe machte er ihr keine Angst. Einige Meter vor ihr blieb er stehen und sah ihr fest in die Augen. Erst jetzt begriff sie. Sie war verloren. Im eisigen Blick ihres Gegenübers lag unbarmherzige Entschlossenheit. Seine Worte waren nur Formalität, er hätte auch schweigen können.
»Iolanda Danzi?«, fragte er mit der heiseren Stimme eines Jungen, der zu früh mit dem Rauchen angefangen hat.
»Ja.«
|128| »Du wirst beschuldigt, Sandra Traverso, Mariù Pavarotti und Liliana Stanchi an die Deutschen verraten zu haben.« Er klang wie der Staatsanwalt vor Gericht.
»Das stimmt nicht, frag Comandante Grandi, er wird sich für mich verbürgen.« Ihre Stimme war fest, aber überzeugend klang sie nicht.
»Du bist zum Tode verurteilt«, schleuderte er ihr pathetisch entgegen. Iolanda konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie hatte sich ganz umsonst Gedanken über einen Ausweg aus einem Leben gemacht, das längst nicht mehr lebenswert war. »
Viva la libertà! Viva Italia!«
Während er auf ihr Herz zielte und zweimal abdrückte, konnte er Bedauern in ihren Augen lesen. Warum war sie traurig? Er schob es auf den Schmerz, Abschied nehmen zu müssen von einem Luxusleben, das sie sich mit dem Geld der Deutschen hatte leisten können. Dabei lag die Antwort auf der Hand: Iolanda wollte nicht sterben, solange der Schweißgeruch des S S-Offiziers an ihr haftete.
Der Attentäter flüchtete und ließ sie in ihrem Blut liegen, das sich auf dem Asphalt ausbreitete. Er flüchtete in Richtung Krankenhaus. Die Schüsse hatten einige Schwarzhemden aufgeschreckt, die die Nacht in der Parteizentrale verbracht hatten. Sie sahen ihn flüchten, doch für einen gezielten Schuss war die Entfernung schon zu groß.
»Bleib stehen, ich weiß, wer du bist!«, rief einer der Männer ihm nach. Biscia hörte ihn und flüchtete in eine Seitenstraße. Ihm war klar, dass er ab jetzt nur in den Bergen sicher war. Die Idee gefiel ihm. Endlich würde er wieder mit Tilde zusammen sein.
Durch die Kantinenküche ging ein Raunen, das allmählich zu Triumphgeheul anschwoll. »Im Morgengrauen haben sie die Verräterin erschossen«, hatte Wanda ihr hochzufrieden erzählt. Wanda war eine Freundin ihrer Mutter.
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